Zehn Argumente: Warum 100 000 Pflegekräfte mehr?

Zehn Argumente: Warum 100 000 Pflegekräfte mehr?

Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger sind völlig überlastet

1. Zu wenig Leute: Es gibt viel zu wenig Krankenhauspersonal, um alle Aufgaben zu bewältigen. Der Pflegewissenschaftler Michael Simon stellt fest, dass zwischen 1993–2013 sowohl der Leistungsumfang als auch das Leistungsspektrum in Krankenhäusern erheblich erweitert wurde – die Zahl des Personals aber nicht. Er geht davon aus, dass etwa 100 000 Vollzeitkräfte nötig sind, um den Anstieg der Arbeit auszugleichen. Im Vergleich steht Deutschland schlecht da: Hier kümmerten sich im Jahr 2010 12,3 Pflegekräfte um 100 Krankenhauspatienten. In England waren es 22,5, in der Schweiz 29,5, in den Niederlanden 29,8 und in Norwegen 42,9.

2. Zu viele Überstunden: In der Pflege ist die Überlastung das zentrale Problem. Ver.di hat in einer Umfrage herausgefunden, dass die Beschäftigten in Krankenhäusern insgesamt 35,7 Millionen Überstunden angehäuft haben. Das sind 32,5 pro Person. Die Überstunden werden teils schon im Dienstplan eingeplant. Die Pflege der Patienten kann also nur gewährleistet werden, wenn das Pflegepersonal Überstunden macht.

3. Keine Bedarfsermittlung: Ver.di und die Fraktion DIE LINKE im Bundestag fordern, dass der Personalbedarf anhand von tatsächlich anfallenden Tätigkeiten bemessen wird. In einem ersten Schritt soll die Pflegepersonalregelung (die gesetzliche Mindestpersonalbemessung) wieder eingesetzt werden. 1996 wurde diese Regelung ausgesetzt, weil der ausgerechnete Personalbedarf viel höher lag als ursprünglich geplant.

Die Patientinnen und Patienten leiden

4. Zu wenig Zeit: Wenn zu wenige Pflegekräfte da sind, bleibt für Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen nicht genug Zeit – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem sie Zuspruch und Zuwendung brauchen.

5. Erhöhte Gefahr: Studien und Umfragen zeigen, dass die Überlastung der Pflegekräfte für Patienten gefährlich ist. Eine Studie von Forschern der University of Pennsylvania zeigte 2014, dass mit dem Betreuungsschlüssel und der Ausbildung des Personals auch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Patienten einen chirurgischen Eingriff überleben. Umgekehrt heißt das: Wenn die Überlastung groß und die Ausbildung schlecht ist, sterben auch mehr Patienten nach einer OP.

6. Hygienestandards leiden: Durch den Arbeitsdruck ist es schwieriger, die Hygienestandards zu beachten. »In den Krankenhäusern tickt eine Zeitbombe«, warnte die Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe, Christel Bienstein 2015. Sie betonte, dass sich nosokomiale Infektionen »rasant« ausbreiten. Das sind Infektionen, mit denen sich Patienten während ihres Klinikaufenthalts anstecken. Eine der Ursachen dafür sei der Personalmangel in der Pflege. Dabei entstehen durch die Infektionen nicht nur Leid, sondern auch hohe Kosten: Hedwig François-Kettner, Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, spricht von 88.000 nosokomialen Infektionen pro Jahr, die fast 600 Millionen Euro Kosten verursachen. Das bedeutet, dass mehr Pflegepersonal nicht nur besser für die Menschen wäre, sondern auch diese Kosten senken könnte. 

Wie bekommen wir 100 000 Pflegekräfte mehr?

7. Gesetzliche Vorgaben: Die Lösung für diese katastrophalen Zustände wäre eine für alle Krankenhäuser verbindliche Quote, wie viele Kranke eine Pflegekraft maximal versorgen darf. Das ist der Kern einer gesetzlichen Personalbemessung, wie sie DIE LINKE, die Gewerkschaft ver.di und Pflege- und Ärzteverbände seit Jahren fordern. In Kalifornien zum Beispiel gibt es bereits eine gesetzliche Personalquote – ohne komplizierte Berechnungen und Modelle. Sie sieht etwa vor, dass auf einer Intensivstation eine Pflegekraft maximal zwei Patienten betreut, auf einer Normalstation eine Pflegekraft fünf Patienten und auf spezialisierten Stationen eine Pflegekraft vier Patienten.

8. Die Sofortlösung: In Deutschland gab es in den 1990er Jahren bereits eine Pflegepersonal-Regelung (PPR). Daran will DIE LINKE als Sofortlösung anknüpfen. Diese Regelung muss so weiterentwickelt werden, dass sie den tatsächlichen Bedarf abbildet. Sie wurde 1996 mit der Begründung abgeschafft, dass sie nicht mit den Wettbewerbselementen zu vereinbaren ist. ver.di fordert die Bundesregierung auf, einen Beirat einzurichten, der über diese Soforthilfe hinaus auch für weitere Berufsgruppen einen verbindlichen gesetzlichen Rahmen entwickelt. Denn Arbeit im Gesundheitswesen ist Teamarbeit. Die gesetzliche Personalbemessung muss bedarfsgerecht und verlässlich sein. Bei dem Gesetz müssen auch die Bundesländer mitziehen.

9. Solide Finanzierung: Für eine examinierte Pflegekraft (Vollzeit) müssen Kliniken rund 50.000 Euro Arbeitgeberbrutto pro Jahr veranschlagen, 100 000 Pflegekräfte zusätzlich kosten also 5 Milliarden Euro – zusätzlich zu den heutigen Personalkosten für Pflegekräfte von rund 22,23 Milliarden Euro. Die gesetzlichen Krankenkassen müssten von den zusätzlichen Ausgaben gemäß ihrem Anteil an den Gesamtausgaben für Kliniken 4,15 Milliarden Euro tragen. Das ist finanzierbar, ohne die Beschäftigten mit höheren Beiträgen zu belasten. Voraussetzung dafür ist, dass die paritätische Finanzierung der Krankenkassenbeiträge wiederkommt. Heute zahlen Arbeitgeber geringere Krankenversicherungsbeiträge als Arbeitnehmer. Steigt der Beitragssatz um 0,3 Prozent und wird gleichzeitig die paritätische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung wiederhergestellt, müssen die Beschäftigten nicht mehr zahlen und es steht Geld für die Aufstockung der Stellen zur Verfügung. Die übrigen Ausgaben für die zusätzlichen Stellen müssen und können die übrigen Kostenträger für Klinikbehandlungen tragen, etwa die privaten Krankenversicherer oder Unfallkassen.

10. Arbeitskräfte gewinnen: Mehrere zehntausend neue Pflegefachkräfte zusätzlich sind nicht sofort zu bekommen – das ist uns auch klar. Aber in der Krankenhauspflege gibt es eine sehr hohe Teilzeitquote von 50 Prozent. Der Pflegewissenschaftler Michael Simon rechnet auf dieser Grundlage mit einer Arbeitszeitreserve von 60.000 Vollzeitkräften. Von denjenigen, die wegen Überlastung den Beruf verlassen haben, würden bei besseren Arbeitsbedingungen etliche zurückkehren. Um die jetzigen Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger zu stärken und um Nachwuchs zu gewinnen, muss der Beruf unbedingt aufgewertet werden. Das bedeutet nicht nur eine bessere Bezahlung, sondern auch eine Entlastung bei der Arbeit. Pflegekräfte müssen Zeit für ihre Patientinnen und Patienten haben – und für sich selbst. Die Ausbildungsbedingungen müssen besser werden. Schuldgeld für Pflegeschulen muss überall abgeschafft werden. Auszubildende dürfen nicht weiter als Reserve für nacht- oder Sonderschichten eingesetzt werden.