Es stimmt drittens: Die LINKE muss in Verbindung mit anderen Akteuren in die gesellschaftliche Auseinandersetzung eingreifen. Hier stellt sich die Frage nach der strategischen Orientierung der Partei tatsächlich in aller Schärfe. Wie muss diese Verbindung beschaffen sein, um die politische Wirksamkeit zu erhöhen? Wie sehen wir die inhaltliche Strategie der Partei, die Funktion von Parteiapparat, Fraktionen und Mitgliedern?
Die Vorsitzenden beginnen mit einer theoretischen Bestimmung von Funktion und Aufgaben einer demokratisch-sozialistischen Partei, unter Bezugnahme auf Gramsci und interventionistische Ansätze. Daraus werden die Strategie und die Rolle von Apparat, Fraktionen und Mitgliedern destilliert. Erste Aufgabe der LINKEN sei es, Protest aufzugreifen und ins Parlament zu tragen, Sprachrohr für Bewegung und Widerstand zu sein. Die Partei – hierin bestehe das Verbindende – besitze eine »Scharnierfunktion« zwischen Bewegung und Parlament mit dem Ziel, die Hegemonie der neoliberalen Krisenbearbeitung herauszufordern. Mitglieder der Partei werden folgerichtig wahrgenommen als Organizer und »Aktivierungsverantwortliche« an der Schnittstelle zwischen Protest beziehungsweise sozialen Bewegungen und Partei. Der Parteireformprozess wird als ein Prozess der Anleitung und Befähigung der Mitgliedschaft verstanden, diese Aufgabe zu erfüllen. Auch die Fraktionen und die Geschäftsstellen der Partei sollen bei der Wahrnehmung dieser Funktion tätig sein: Kampagnen initiieren, Organizing-Ausbildungen finanzieren, »Intellektuellenratschläge« beheimaten, »politische Orientierung geben« und soziale Bewegungen organisieren. Ungeklärt bleibt das Verhältnis zum parlamentarischen Wirken, welches der erste und unmittelbare Auftrag von Millionen Menschen ist, die die LINKE gewählt haben. Beide Funktionen produktiv zu verbinden, ist aber unabdingbar für einen Erfolg der Linken und für eine gesellschaftliche Veränderung!
Wenn der politische Bezug der Partei die LINKE in diesem Sinne stark auf die Achse »gesellschaftliche Partei« jenseits des übrigen Parteienwettbewerbs verschoben wird, droht die Gefahr, dass parlamentarisches Wirken (und ggf. auch die Beteiligung an Regierungen) eher instrumentell, abgeleitet und nachrangig wird. Damit werden die Konflikte ausgeblendet, die in diesem Spannungsfeld zwangsläufig auftreten. Das Papier ignoriert eine Reihe von strukturellen Widersprüchen, die mit der Präsenz im ›engeren‹ Staatsapparat verbunden sind, wie etwa die Erwartung prinzipieller Bündnis- und Kompromissfähigkeit, die Notwendigkeit, die eigenen politischen Ansprüche innerhalb der politischen Mechanismen zu übersetzen, der faktische Zwang, diese Mechanismen im Wettbewerb der Parteien zunächst einmal gekonnt einsetzen zu müssen, um auch nur die Chance zu erhalten, jemals über sie hinaus wirken zu können. Dies führt zu einer Unterschätzung der Schwierigkeiten einerseits und zu einer Geringschätzung der Möglichkeiten andererseits, die sich aus dieser zunächst einmal prinzipiell übergreifenden Rolle und Funktion einer politischen Partei ergeben. Dem können wir nicht ausweichen.1
Im Mittelpunkt des Selbstverständnisses einer modernen demokratisch-sozialistischen Partei müssen die Mitglieder der Partei, die von uns vertretenen Menschen und ihre Interessen, Ziele und Bedürfnisse stehen. Ihr kollektiv politisches Handeln wird bestimmt durch die gesellschaftliche Wirklichkeit und durch ihre widersprüchliche, konfliktbeladene Selbstverortung darin. Sie gemeinsam sind die ExpertInnen für die ›richtige‹ politische Strategie, über die sie demokratisch entscheiden – als lernende Menschen innerhalb des komplexen sozialen Mechanismus Partei und Gesellschaft.
Unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie in hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften beweist sich eine politische Partei in den Erwartungen vieler Menschen an ihrer Fähigkeit zur politisch-symbolischen Repräsentation und zur machtpolitischen Durchsetzung ihrer Ziele im politischen System. Dazu gehören die Formulierung alternativer Ansätze, die Erprobung neuer Konzepte jenseits des neoliberalen Mainstreams, die Beteiligung an alternativen gesellschaftlichen Koalitionen sowie die Herausbildung einer kritischen Gegenöffentlichkeit und realer Partizipation. Im Wettbewerb des Parteiensystems geht es zudem um Regierungsfähigkeit, um Koalitionen, um Erfolg und Misserfolg institutioneller Politik.
Wer nicht vermitteln kann, mit welchen Konzepten die Gesellschaft im institutionellen politischen Feld gestaltet werden kann und soll, und vor allem mit wem dies geschehen soll, wird im Parteienwettbewerb der parlamentarischen Demokratie dauerhaft nicht bestehen. Es muss einer erfolgreichen demokratisch-sozialistischen Partei gelingen, die ›von außen‹ an sie herangetragenen Erwartungen in einem widersprüchlichen Feld produktiv zu Politik zu verbinden, was für Linke immer auch heißt, Produktionsverhältnisse durchzusetzen, die über den Kapitalismus hinauswachsen könnten. Es wäre falsch, die durchwachsenen Erfahrungen parlamentarischen Opponierens, Tolerierens oder gar Regierens auf kommunaler und Landesebene auszublenden. Sie müssen offensiv aufgearbeitet und für die Strategiebildung genutzt werden. Dieser Aspekt spielt im Parteientwicklungspapier kaum eine Rolle.
Der Protestgestus steht einer linken Partei im hoch entwickelten Kapitalismus angesichts der alltäglichen Ungerechtigkeiten und gesellschaftlichen Missstände grundsätzlich gut zu Gesicht. Gelingt aber die Übersetzung von sozialen Interessen und Bedürfnissen in praktische, institutionelle Politik nicht, schleift sich die Attraktivität des Protests ab. Und wenn wir darauf nur mit einer weiteren Radikalisierung der Protestpose antworten, wird es sehr schwer, überzeugend für realistische Wege der Veränderung zu werben und die Spielräume dafür zu nutzen.
Verbinden heißt für uns die ständige Suche nach politischer Gestaltungsmacht in und zwischen den vielfältigen sozialen Alltagswelten, den außerparlamentarischen Bewegungen und den parlamentarischen Spielräumen, die Suche nach realitätstauglichen politischen Konzepten, die mit entsprechender gesellschaftlicher Rückendeckung Realisierungschancen besitzen. Abschließende Gewissheiten sind der Politik wesensfremd, die politische Stärke einer Partei wächst aus dem immer wieder neuen Suchen als lernende Organisation. Eingedenk unseres historisch-politischen Erbes darf avantgardistische Überheblichkeit kein Element der innerparteilichen Kultur und des parteilichen Selbstverständnisses sein.
Politische Parteien, und das unterscheidet sie von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften oder alternativen Milieus, verfügen über die Möglichkeit und die Funktion, über die Beteiligung an Parlamentswahlen und durch das Einbringen von Gesetzesvorlagen, durch kluge Oppositions- bis hin zu Regierungspolitik verbindliche gesetzliche Normen und gesellschaftliche Wirklichkeit zu verändern. Diese Dimension politischer Funktionsbestimmung einer Partei – und damit der Streit um das bessere konkrete Konzept im Parteienwettbewerb – muss wesentlich stärker als in den zurückliegenden Monaten und Jahren wieder Gegenstand innerparteilicher Debatten werden. Eine solche Verbindung der Suche nach einer strategischen Perspektive für die LINKE und des Parteientwicklungsprozesses als eines Selbstveränderungsprozesses kann und wird die Partei stärker machen.