Der fliegende Teppich der Grünen
Zur Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen in Freiburg im Breisgau
Von Jochen Weichold
»Wir bleiben auf dem Teppich, auch wenn der gerade fliegt«, erklärte unlängst die Galionsfigur der Grünen in Baden-Württemberg Winfried Kretschmann angesichts des Umfragehochs für seine Partei. Und nicht nur in der Landeshauptstadt, wo die Grünen die Schlichtungsverhandlungen zu »Stuttgart 21« öffentlichkeitswirksam für die Darstellung ihrer Positionen nutzten, sieht sich die Öko-Partei durch breite Bürgerproteste beflügelt.
Kretschmann war denn auch der Star des jüngsten Parteitages der Grünen, der erstmals tief im Südwesten der Bundesrepublik, in Freiburg im Breisgau, stattfand. Mitte November 2010 befassten sich die rund 750 Delegierten unter dem betont nüchternen Motto »Auftrag: Grün«, das mehr nach angestrengter Arbeit als nach badischer Lebensart mit ihren vielfältigen Genüssen schmeckte, mit den Themen Energiepolitik, Gesundheitspolitik und Kommunalpolitik.
Im Zusammenhang mit dem letztgenannten Politikfeld bekräftigte die Öko-Partei ihr Nein zum Bahn- und Immobilienprojekt »Stuttgart 21«. Generell setzen sich die Grünen für eine bessere Finanzausstattung der Kommunen ein, sie wollen die Grundsteuer stärken und ökologisch reformieren und die Gewerbesteuer zu einer kommunalen Wirtschaftssteuer ausbauen. Die Partei fordert eine Rekommunalisierung zentraler Aufgaben der Daseinsvorsorge, insbesondere der Energieversorgung, der Abfallentsorgung und der Wasserversorgung – eine Abkehr von bislang vertretenen neoliberalen Privatisierungsthesen auf diesem Gebiet.
Auf dem Feld der Energiepolitik machten die Delegierten vor allem ihrer Empörung über den Ausstieg der Bundesregierung aus dem Atomausstieg Luft und plädierten für den Ausbau der erneuerbaren Energien, für mehr Energieeffizienz und für Energiesparen. Nach dem in Freiburg beschlossenen umfangreichen energiepolitischen Konzept sollen die Stromproduktion möglichst bis 2030 und die Wärmeproduktion bis 2040 komplett auf erneuerbare Energien umgestellt sein. Der CO2-Ausstoß soll bis 2050 um 95 Prozent reduziert werden. Das Konzept sieht (mit Ausnahme des Standorts Gorleben) eine grundsätzlich offene Endlagersuche für alle Arten von Atommüll vor.
Politisch haben es die Grünen verstanden, mit diesem Konzept im Bereich ihrer Kernkompetenz weiter zu punkten. Ihre Botschaft lautet: Schwarz-Gelb macht energiepolitisch eine Rolle rückwärts. Die SPD und DIE LINKE würden eine gefährliche Kohle-Romantik pflegen, indem sie sich für den Neubau von Kohlekraftwerken einsetzen. Zukunftsfähig sei dagegen nur das grüne Energiekonzept, mit dem die Grünen ihren Alleinvertretungsanspruch auf eine ökologische Energiepolitik zu begründen versuchen.
In der Debatte zur Gesundheitspolitik kritisierten die Delegierten vor allem den Kurs der schwarz-gelben Bundesregierung als Weg in die Zwei-Klassen-Medizin. Die faktische Einführung der Kopfpauschale, die Abkehr von der paritätischen Finanzierung des Gesundheitssystems zugunsten der Unternehmen, die Besserstellung der Privaten Krankenversicherung (PKV) zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), die eingeleiteten Fehlentwicklungen bei der Gesundheitsprävention und insbesondere die Umverteilung der Finanzmittel im Gesundheitssystem zugunsten der Pharma-Konzerne würden zu einer krassen Benachteiligung von Millionen von Versicherten führen. Wer arm ist, sei häufiger krank und habe schon heute meist einen schlechteren Zugang zu medizinischer Versorgung. Es werde künftig noch mehr vom eigenen Geldbeutel abhängen, welche Gesundheitsversorgung man erhält. Bei den gesundheitlichen Chancen – so eine Delegierte – gehe damit die Schere genauso auseinander wie bei der Einkommensentwicklung.
Dagegen hoben die grünen Basisvertreter immer wieder die Vorteile des Konzepts der Grünen Bürgerversicherung hervor. Sie soll grundsätzlich alle Bürgerinnen und Bürger – auch gut verdienende Angestellte, Selbstständige, Abgeordnete und Beamtinnen und Beamte – versichern und damit die finanzielle Basis des Systems verbreitern und den Solidargedanken verankern. Zu den Eckpfeilern der in Freiburg beschlossenen Bürgerversicherung gehört, dass an ihrer Finanzierung alle Einkommen beteiligt werden – neben den Einkommen aus abhängiger Beschäftigung auch Einkommen aus Kapitalanlagen, Vermietung und Verpachtung sowie Gewinne. Das Prinzip der paritätischen Beitragsteilung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern soll vollständig wiederhergestellt werden. Die Finanzierung der Grünen Bürgerversicherung soll über die einkommensabhängigen Beiträge und den Bundeszuschuss – und damit nicht über Patienten-Selbstbeteiligungen – erfolgen.
In diesem Kontext soll auch die Beitragsbemessungsgrenze, die derzeit in der GKV bei 3.750 Euro liegt, angehoben werden. Den Delegierten wurden dazu zwei Alternativen zur Entscheidung vorgelegt: Alternative A sah eine Anhebung auf das Niveau der heutigen Beitragsbemessungsgrenze (West) der gesetzlichen Rentenversicherung vor (2010: 5.500 Euro), Alternative B auf das Niveau der heutigen Versicherungspflichtgrenze (2010: 4.162,50 Euro). Obwohl Realo-Politiker wie Fritz Kuhn davor warnten, grüne Anhänger mit zu hohen Belastungen zu verprellen, folgten die Delegierten mit deutlicher Mehrheit dem Finanzpolitiker Gerhard Schick, der für Alternative A plädiert und sie damit begründet hatte, dass die geplante Abschaffung der Praxisgebühren, Arzneimittelzuzahlungen und anderen Selbstbeteiligungen finanziell aufgefangen werden müsste.
Die Grünen möchten den Einheitsbeitrag zur GKV abschaffen. Stattdessen sollen die Krankenversicherer die Höhe der einkommensabhängigen Beiträge wieder jeweils selbst festsetzen. Nach dem Willen der Öko-Partei sollen Krankenversicherer unterschiedlicher Rechtsformen innerhalb des gleichen Rechtsrahmens miteinander konkurrieren. Parteichefin Claudia Roth ließ keinen Zweifel daran, dass die Grünen das Urheberrecht an der Bürgerversicherung für sich beanspruchen: Die SPD habe zwar den Begriff übernommen, aber über den Inhalt überhaupt noch nicht debattiert.
Die Grünen gehen optimistisch in das Wahljahr 2011. Die anhaltend hohen Umfragewerte bestärken sie darin ebenso wie die Tatsache, dass sie in den letzten zwei Jahren rund 5.000 neue Mitglieder hinzugewonnen haben. Mit insgesamt über 51.600 Mitgliedern nähern sie sich wieder der Höchstmarke, die sie zu Beginn ihrer Regierungsjahre 1998 erreicht hatten (51.813 Mitglieder). Sie sind zudem kommunalpolitisch gut verankert: Nur in drei Kreistagen gibt es bisher noch keinen grünen Mandatsträger.
Die Öko-Partei will 2011 in die Landtage von Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern einziehen, um dann erstmals in ihrer Geschichte in allen Landtagen vertreten zu sein. Darüber hinaus hofft sie, in Baden-Württemberg oder in Berlin erstmals den Ministerpräsidenten bzw. den Regierenden Bürgermeister stellen zu können. Derartige Aussichten wirken – wie in Freiburg zu erleben war – ungemein disziplinierend auf die Partei. Man setze in beiden Bundesländern »auf Sieg, nicht auf Platz«, erklärte die Parteiführung dazu. So wurde – für die Grünen ungewöhnlich – Geschlossenheit demonstriert.
Die Grünen haben mit dem Green New Deal ein in sich stimmiges und damit für ihre Wählerklientel glaubwürdiges Zukunftskonzept entwickelt. Trotzdem werden sie den Spagat bewältigen müssen zwischen ihren alten Wählern und den neuen Schichten, die sich ihnen zuwenden. Denn deren Interessen sind keineswegs deckungsgleich. Aber obwohl die Grünen (auch mit den in Freiburg gefassten Beschlüssen) speziell ihrer Wählerklientel, den gut verdienenden Mittelschichten, erhebliche materielle Belastungen zumuten, scheinen sie nach dem Spekulationsdesaster der Finanzmarktkrise mit ihren auf den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zielenden Vorstellungen und Werten eher den Nerv dieser Schichten zu treffen als eine FDP, die nur brüchige Steuersenkungsversprechen anzubieten hat.
Dr. Jochen Weichold ist Bereichsleiter in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.