Disput

Ein verfassungswidriges Gesetz

Aus der Bundestagsrede von Gregor Gysi am 3. Dezember in der abschließenden Debatte über das Gesetz zur Neuregelung des Hartz-Regelsatzes

Die Neuregelung der Hartz-IV-Regelsätze ist verfassungswidrig, weil die Regelsätze nicht bedarfskonform sind, sondern allein haushaltskonform zurechtgetrickst wurden. Das wird Ihnen das Bundesverfassungsgericht, falls es dort hinkommen sollte, nicht durchgehen lassen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Swen Schulz (Spandau) (SPD))

Ich befürchte trotzdem, dass der Gesetzentwurf eine Mehrheit im Bundestag findet. Der Bundesrat könnte aber am 17. Dezember Nein sagen und damit das Ganze kippen. Herr Trittin, erklären Sie mir doch Folgendes: Die Grünen haben in der Koalition mit der CDU in Hamburg fast alle Positionen aufgegeben und wollten da raus; das kann ich nachvollziehen.

Aber für mich ist es völlig unverständlich, dass Sie da zur Unzeit rausgegangen sind. Warum konnten Sie nicht bis zum 17. Dezember warten? Dann hätten wir eine klare Mehrheit im Bundesrat gehabt. Die geben Sie jetzt einfach auf.

(Beifall bei der LINKEN - Markus Kurth (Bündnis 90/Die Grünen): Kümmern Sie sich mal um die Union! - Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen): Das ist Ihnen doch erst nach der Pressemitteilung eingefallen! Du hast das doch begrüßt! Dann hat er plötzlich gemerkt, dass das etwas mit dem Bundesrat zu tun hat!)

- Ja, warten Sie mal. - Jetzt hat unsere Fraktion in Hamburg beantragt, dass man beschließen soll, dass die Regierung aufgefordert wird, im Bundesrat mit Nein zu stimmen. Herr Trittin, das Bundesverfassungsgericht hat aber entschieden, dass das eine Entscheidung der Regierung und nicht des Parlaments ist. Wieso Sie die CDU im Bundesrat am 17. Dezember 2010 allein agieren lassen, ist nicht erklärbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun haben wir aber immer noch eine Stimme Mehrheit im Bundesrat, wenn ich alle Oppositionskräfte zusammennehme. Aber Herr Ulrich aus dem Saarland – nicht schlecht von der FDP bezahlt – hat erklärt, dass er sich noch überlege, ob es bei der Enthaltung bleibe. Man könne auch Ja sagen, allerdings unter einer Bedingung, nämlich dass etwas für das Saarland herausspringe. Ich bitte Sie! Überlegen Sie sich doch mal, was er sagt! Ihm ist das Grundgesetz egal, ihm ist die Armut der Hartz-IV-Empfänger egal. Wenn er ein Haus für das Saarland bekommt, dann sagt er Ja zu diesen Sätzen. Das ist überhaupt nicht hinnehmbar und verantwortungslos.

(Beifall bei der LINKEN - Markus Kurth (Bündnis 90/Die Grünen): Das hat er überhaupt nicht gesagt! Erzählen Sie doch keinen Quatsch! - Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen): Er ist wieder in seinem Element!)

Aber es passt natürlich dazu, dass Hartz IV ja eine Erfindung von SPD und Grünen ist und dass alle Fraktionen im Bundestag dem verfassungswidrigen Gesetz, weshalb wir ja jetzt hier sitzen, zugestimmt haben: Union, FDP, SPD und Grüne.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich glaube, das Bundesverfassungsgericht hat für dieses Gesetz eine deutliche Ohrfeige erteilt.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber es gibt eine Hoffnung. Die Hoffnung besteht darin, dass auf den Antrag unserer Fraktion hin die Mehrheit im Landtag von Nordrhein-Westfalen beschlossen hat, dass die Regierung eine Organklage erheben soll, falls das Gesetz so Gesetz werden sollte. Darauf beruht auch meine Hoffnung, dass es möglichst schnell zum Bundesverfassungsgericht geht.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun habe ich ja gesagt, Frau von der Leyen, dass Sie die Auflagen des Bundesfinanzministeriums von 2008 – übrigens damals noch unter der Leitung der SPD – erfüllt haben. Damals wurde gesagt: 5 Euro mehr darf es geben. Dann haben Sie bei den Berechnungen getrickst und geschummelt, bis Sie exakt auf diese 5 Euro gekommen sind. Das darf man Ihnen nicht durchgehen lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich nenne nur drei Tricks. Der erste Trick bestand darin, die Verbrauchsstichprobe zu ändern. Nicht mehr 20 Prozent der Geringverdienenden wurden herangezogen, sondern nur noch 15 Prozent. Das bedeutete, dass Sie die 5 Prozent der Bevölkerung, die schon etwas mehr verdienten als die unteren 15 Prozent, ausgelassen haben.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Die haben Sie nur ausgelassen, um auf Ihre komischen 5 Euro zu kommen. Das ist der Trick, der dahintersteckt. Das lässt Ihnen das Bundesverfassungsgericht nicht durchgehen.

Dann gab es eine zweite direkte Auflage des Bundesverfassungsgerichts – nämlich die verdeckten Armen herauszurechnen. »Verdeckte Arme« sind Leute, die einen Anspruch auf Hartz IV oder ähnliche Sozialleistungen hätten, aber diesen Anspruch nicht geltend machen. Nun haben wir bei der Regierung, beim Statistischen Bundesamt der Regierung, nachgefragt, was es eigentlich für eine Änderung nach sich zöge, wenn man nicht 15, sondern 20 Prozent der Geringverdienenden genommen und die verdeckten Armen herausgerechnet hätte. Und das Statistische Bundesamt teilt mit: Allein dadurch würde sich bereits der Regelsatz um 28 Euro monatlich erhöhen. – Das ist so was von eindeutig verfassungswidrig – ich weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen, dass Sie jemals damit durchkommen könnten.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Swen Schulz (Spandau) (SPD))

Außerdem haben Sie die Aufstocker nicht herausgerechnet. (...)

Was haben Sie noch gemacht? Sie haben das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger und für die Kinder gestrichen. Sie haben das Übergangsgeld für Arbeitslose beim Übergang vom Arbeitslosengeld zu Hartz IV gestrichen. Sie haben Milliarden für die Bildungsmaßnahmen gestrichen. – Das alles haben Sie damit begründet, dass ein Schuldenabbau stattfinden müsse. Massiv neue Schulden haben wir aufgenommen dank der Banken und ihrer Spekulationen, aber die zahlen dafür keinen Euro, auch nicht die Vermögenden, auch nicht die Bestverdienenden. Daran wird das sozial Ungerechte an dem gesamten Vorgang deutlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich noch etwas zu den Kindern und Jugendlichen sagen. Sie sollten eine substanzielle Verbrauchsprobe machen. Das haben Sie aber nicht gemacht. Stattdessen nehmen Sie wieder nur einen Prozentsatz des Regelsatzes der Erwachsenen. Das Bundesverfassungsgericht hat aber klar gesagt: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. (...)

Ich kann es nicht ändern, dass Sie trotz meiner Warnung auch heute wieder ein verfassungswidriges Gesetz beschließen werden.

(Beifall bei der LINKEN)