Linke Strömungen
Verschiedene Strömungen nicht als Schwäche, sondern als Vorteil, als Chance verstehen
Von Harry Nick
I.
In politischen Bewegungen gibt es immer drei unterscheidbare Strömungen. Warum nicht zwei oder vier? Weil es immer drei deutlich unterschiedene Ansichten über die herrschenden Zustände und deren notwendige und mögliche Veränderungen gibt. Die einen sind mit den herrschenden Zuständen im Ganzen zufrieden und halten grundlegende Veränderungen für nicht nötig. Das ist der konservative Flügel, der auf Tradition, Beharrung setzt. Andere sind mit den herrschenden Zuständen unzufrieden, halten Veränderungen, Verbesserungen für nötig. Die »Mitte« schließlich ist für Veränderungen, aber in einer »angemessenen«, »vernünftigen« Weise.
Seit Langem ist es üblich, diese drei politischen Strömungen als Rechte, Linke und die Mitte zu benennen. Diese Dreiteilung gibt es aber nicht nur in der politischen Landschaft einer Gesellschaft, sie »wiederholt« sich innerhalb der großen politischen Bewegungen, Parteien. Es gibt also rechte Sozialdemokraten und Linksliberale. Das sind Bezeichnungen, gegen die auch von den jeweils Gemeinten meist nichts eingewandt wird. Wobei natürlich jeder weiß, dass rechte Sozialdemokraten nicht zu den Rechten im politischen Spektrum der Gesellschaft gehören; und Linksliberale würden sich zu Recht dagegen wehren, zu »den Linken« gerechnet zu werden.
Heftige Einwände gegen die Unterscheidung in Linke und Rechte innerhalb ihrer Bewegung gibt es offenbar vor allem unter den Linken.
Gern wird hier eine andere Teilung bevorzugt, eine Zweiteilung: »Es gibt uns, die wir Recht haben, und dann gibt es noch die anderen«. Aus der rechten Ecke tönt es: »Wir«, die Kreativen, Aktiven, die Reformer, Modernisierer, Erneuerer, und die anderen, die Traditionalisten, Konservativen, Ewig-Gestrigen, »Bedenkenträger«, wenn nicht gar »Betonköpfe«. Und aus der linken Ecke: »Wir«, die Hüter der reinen Lehre, die »wahren« Sozialisten, die unerschrockenen Kämpfer, und die anderen, die Reformisten, Revisionisten und Opportunisten, wenn nicht gar Verräter. Dass es eine Mehrheit jenseits aller Flügel gibt, erfährt man von den Flügel-Sozialisten nicht.
II.
Verständlich, dass gerade in einer sozialistischen Partei diese drei Strömungen mit besonderer Deutlichkeit hervortreten, die Auseinandersetzungen zwischen ihnen besonders lebhaft sind.
In einer sozialistischen Partei kann es nicht, wie heutzutage in den sozialdemokratischen Parteien, nur um Varianten einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gehen, sondern um Kapitalismus und Antikapitalismus, um alternative Gesellschaftsmodelle.
Die Linkssozialisten schätzen die Möglichkeiten grundlegender sozialer Verbesserungen in dieser kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Ordnung, das heißt ohne Umwälzungen der Macht- und Eigentumsverhältnisse, als sehr gering ein oder leugnen sie gar. Sie betonen ihre fundamentale Opposition zu dieser Gesellschaft und lehnen Regierungsbeteiligungen im Prinzip ab.
Die Rechtssozialisten vertreten keine deutlich erkennbaren antikapitalistischen Positionen. Für sie bieten die heutigen Gesellschaften genügend Raum für demokratische Fortschritte, soziale Verbesserungen. Sie sind für Regierungsbeteiligungen auch bei weitreichenden Kompromissen.
Die Linkssozialisten neigen zu nostalgischer Verklärung der DDR-Gesellschaft. Sie betonen vor allem deren soziale Errungenschaften. Die Rechten in der LINKEN meinen, dass dieser Sozialismus der sozialistischen Bewegung eher geschadet denn sie vorangebracht hätte. Manche meinen gar, dass die DDR überhaupt nicht eine sozialistische Gesellschaft gewesen war.
Die »Mitte« bilden keineswegs, wie ein linkes Vorurteil das sieht, die unschlüssigen, ängstlichen und ewig schwankenden Kleinbürger. Die »Mitte« setzt sich ein für eine realistische Politik notwendiger Veränderungen in dieser Gesellschaft und lässt sich hiervon weder durch Einbindungen in die heutigen Macht- und Interessenstrukturen noch durch illusionäre Vorstellungen abhalten.
Parteiprogramme der LINKEN können keine Programme der »Flügel«, sie müssen vor allem Programme der Mitte sein.
III.
Linke Parteien tendieren zu ganz normalen Parteien auch in der Weise, dass auch in ihnen der herrschende Zeitgeist weht, wenngleich nicht so heftig und mit mehr oder weniger Gegenwind. Wie in dieser Gesellschaft weht der Zeitgeist auch hier von rechts nach links. Für die jeweils Linkeren ist auch in der LINKEN der Zeitgeist ein Gegenwind, der ihnen ins Gesicht bläst; für die Rechteren ist er Rückenwind.
Das bedeutet: Die Rechte hat auch in einer Linkspartei nicht nur größere Möglichkeiten des Hineinwirkens in die Gesellschaft, größere Chancen medialer Wahrnehmung und Artikulation; sie hat auch die Sympathien und praktische Beihilfe der politischen Klasse, des Zeitgeistes, die Unterstützung der Medien in den innerparteilichen Auseinandersetzungen.
Die Mechanismen der repräsentativen Demokratie bewirken in einer sozialistischen Partei in besonders starkem Maße eine »Aufwärts-Favorisierung« des rechten Flügels.
Die Zahl der Anhänger und der Einfluss des linken Flügels sind in der Basis stärker als auf der nächsten Ebene, den Hauptversammlungen, auf denen die Parteitagsdelegierten gewählt werden, und in den Hauptversammlungen stärker als auf den Parteitagen. Analog nimmt das Gewicht der Vertreter des rechten Flügels von Ebene zu Ebene zu; es ist auf den Parteitagen deutlich stärker als in der Parteibasis.
Es sind zunächst die elementaren Gepflogenheiten in der Vertretungs-Demokratie, welche einen bestimmten Personenkreis favorisieren. Wer hat auf den Hauptversammlungen die besten Chancen, das Delegiertenmandat für einen Parteitag zu erhalten? Natürlich diejenigen, die man am besten kennt. Das sind vor allem die bisherigen Amts- und Mandatsträger. Die dürfen natürlich nicht unter den Generalverdacht gestellt werden, sich von materiellen Erwägungen leiten zu lassen. Aber sie sind auch persönlich nicht nur an Wahlerfolgen der Partei, sondern auch an Erhalt und Aufstieg in ihren Positionen interessiert. Und das ist nun Mal über den rechten Flügel am aussichtsreichsten.
Der Einfluss der Parteibasis kann gestärkt werden durch die Verringerung des Schlüssels bei Delegiertenwahlen; wenn auf zehn Mitglieder ein Delegierter entfällt, hat ein einfaches Mitglied eine größere Chance, auch delegiert zu werden, als wenn auf 20 Mitglieder ein Delegierter entfällt.
Denkbar wäre auch eine Quotierung; zum Beispiel, wenn von zehn Delegierten mindestens drei auf solche entfallen müssten, die kein Einkommen aus politischen Funktionen beziehen.
Am allerwichtigsten sind wohl die Stärkung der direkten Demokratie, Abstimmungen der gesamten Mitgliedschaft über besonders wichtige Fragen.
Die Linken sollten sich der Verführungen fundamentalistischer Weltsicht und Politik und ihrer Gefahren bewusst werden.
Fundamentalismus gibt es vor allem an den Rändern des rechten Flügels rechter und an den Rändern linker Flügel in linken Bewegungen. Fundamentalismus ist immer auch eine Art von religiösem Denken. Er kommt der menschlichen Sehnsucht nach Verlässlichkeit, Klarheit, einer menschlichen Welt besser entgegen, als bloße Rationalität dies vermag.
Fundamentalisten stehen fest auf den Fundamenten einer Lehre. Ihre wichtigste Waffe ist die Wiederholung, der Appell an Überzeugungen, die alle, auch ihre Widersacher in derselben Partei oder Bewegung, haben.
Fundamentalismus versteht sich deshalb als die »reine Lehre«. Fundamentalismus spart sich jeglichen Zweifel, die Arbeit des Suchens, des ständigen Lernens aus.
Der Fundamentalist wandelt im Lichte und kennt nicht die Qualen und Gefahren und Stolpersteine, die Irrwege und Irrlichter in diesem Dämmerlicht, das zwischen Wissen und Nicht-Wissen, zwischen Gewissheiten und Ratlosigkeit liegt. Er ist selbstsicher und immer ausgeruht.
Die rationale Stärke der Fundamentalisten ist vor allem die scheinbar bruchlose, folgerichtige Verlängerung der Fundamentalthesen der Grundleger hin zu den von ihnen, den Fundamentalisten, gegebenen konkreten Handlungsanleitungen. Fundamentalisten sind mit Verweisen auf die Fundamentalthesen kaum zu widerlegen.
Die Fundamentalisten wähnen sich nicht nur als Wächter der reinen Lehre, als Fundamentalisten können sie gar nicht anders, sind sie es. Ihr angemaßtes Richteramt kommt ihnen als Fundamentalisten ganz selbstverständlich zu.
Fundamentalisten unter den Marxisten sind die genuinen orthodoxen Marxisten, von denen Joseph Alois Schumpeter sagte, dass sie ihre Widersacher nicht nur beständig als im Irrtum, sondern auch als in der Sünde befangen sehen. Das rationale Argument aus dem Munde des Fundamentalisten ist immer auch ein moralischer Vorwurf.
Die scheinbare Stärke fundamentalistischen Denkens ist auch seine Schwäche: die von Wahrheit und Wirklichkeit wegführende Vereinfachung. Es hat die Kraft einer allgemeinen Schwäche des »gesunden Menschenverstandes« für sich, von dem Friedrich Engels sagte, dass sie im mechanischen Denken bestehe. Das dialektische Denken ist anstrengender, es muss die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit »mitdenken«, Gegensätzliches »zusammen« denken. Fundamentalistisches Denken ist eine Art von grausamem Denken, grausam gegen die Widersacher und die Wirklichkeit vergewaltigend.
Der fundamentale methodologische Irrtum der Fundamentalisten ist ihre Annahme, dass die scheinbar folgerichtige »Verlängerung« wahrer Aussagen zu höheren Wahrheiten führe, jedenfalls von der Wahrheit nicht wegführen könne. Wie sich in Wahrheit in die Unendlichkeit verlängerte parallele Geraden dort schneiden und seitenverkehrt wiederkehren, können Extensionierungen wahrer Sätze aber auch zur Unwahrheit führen.
IV.
Die Stärke gerade einer Bewegung der LINKEN, ihrer inneren Kraft und ihrer Ausstrahlung in die Gesellschaft hängt entscheidend von der politischen Kultur, von der Art des Umgangs miteinander ab; schließlich erstreben sie eine Welt, in der alle Menschen in einem menschlichen Verhältnis zueinander leben.
Unbedingte Voraussetzung hierfür ist, dass die verschiedenen Strömungen akzeptiert werden, dass dies nicht als Schwäche, sondern als Vorteil, als Chance verstanden wird. Das aber hängt davon ab, ob DIE LINKE ihre innerparteilichen Auseinandersetzungen für einen produktiven Lernprozess zu nutzen vermag, ob sie zu größerer Klarheit führen oder ob sie die Energien verzehren, die Kräfte lähmen, Selbstzerstörung bewirken.
Natürlich muss es unter den LINKEN auch Gemeinsamkeiten in der Weltsicht und in den politischen Positionen geben. Alle LINKEN haben die Pflicht, sich für die gegenwärtigen Interessen der arbeitenden Menschen, der sozial Benachteiligten, der Frauen, der Kinder und Alten einzusetzen. Die Vertröstung auf ein »Jenseits«, auch wenn ein Jenseits des Kapitalismus gemeint ist, ist nur ein anderes des von Heinrich Heine zu Recht geschmähten »Eiapopeia vom Himmel«.
Kapitalismuskritische Positionen gibt es heute nicht nur unter den LINKEN. Das »Alleinstellungsmerkmal« der Sozialisten kann nur der Antikapitalismus sein. Und der ist nach aller Erfahrung unentbehrlich für den Kampf gegen die kapitalistischen Übel schon heute.