Disput

Oben bleiben!

Der Widerstand gegen »S 21« geht weiter

Stuttgart, 11. Dezember, kurz vor 14 Uhr: Im Zentrum der Landeshauptstadt vergnügt sich Jung und nicht mehr so Jung auf einer großen Eisfläche, nebenan dampft im Märchenland eine Kindereisenbahn, und auch rundherum herrscht anheimelnde Adventsstimmung. Und dennoch zieht es zu eben dieser Stunde viele, sehr viele direkt vor den Hauptbahnhof. Dort sprechen auf der letzten Kundgebung in diesem Jahr gegen das Milliarden teure Bahn- und Immobilienprojekt »Stuttgart 21« mehrere Zehntausend ein eindeutiges Urteil über Geißlers Schlichterspruch und über die Zukunft von »S21«. Dass so viele Menschen und so unterschiedliche Menschen zusammenkommen – die Dame mit Perlenkette ebenso wie der Junge im Parka –, beeindruckt Hannes Rockenbauch besonders. Und als der Sprecher des Aktionsbündnisses gegen »S21« (Vorsitzender der Fraktionsgemeinschaft aus SÖS und DIE LINKE im Stadtrat ist er ebenfalls) die große Menge fragt, wer nach dem Schlichterspruch weiterhin für einen modernisierten Kopfbahnhof (K21) und nun für »Widerstand plus« sei, werden die Arme in die Höhe gereckt, und Rockenbauch verkündet unter frenetischem Applaus: »Es steht 50.000 zu 0!«

»Oben bleiben!«, »Volksentscheid!«, »Mappus muss weg!« Die Sprechchöre schallen über Platz und Nebenstraße, wieder und wieder. Mit Trillerpfeifen und Tröten werden die kurzen Ansprachen unterstützt. Den Faktencheck fasst der Grüne Boris Palmer zusammen: »Wir wissen heute: ›Stuttgart 21‹ ist ein zerfledderter Zombie, und der ›Kopfbahnhof 21‹ ist das bestgeplante Alternativprojekt aller Zeiten.« Die Zahlreichen Vorteile des Kopfbahnhofes, in der »Schlichtung« bestätigt, müssten in den Monaten bis zur Landtagswahl den Mitbürgerinnen und Mitbürgern erläutert werden. »Oben bleiben!«, »Volksentscheid!«, »Mappus muss weg!« Die Sprüche auf Transparenten, Kartons, Schals und auf einfachen Papierblättern schwanken zwischen fast poetisch und radikal.

Auch DIE LINKE ist mittendrin, der Landesverband ohnehin, und der Parteivorstand hat seine reguläre Sitzung nach Stuttgart verlegt, um beim Protest dabei zu sein. Gesine Lötzsch und Gregor Gysi werden mit Beifall begrüßt. Die LINKE-Bundestagsabgeordnete Sabine Leidig betont von der Bühne aus, dass es stets um Demokratie, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit gehe. Notwendig seien völlig andere Großprojekte wie der Umbau der Autoindustrie und die Verkürzung der Arbeitszeiten für ein gutes Leben. Am Abend lud die Partei zur Veranstaltung »Kultur in der Demokratie-Krise« ein.

Nach der gut einstündigen Kundgebung mit mehreren Rednern, mit zündender Live-Musik und einer Wortmeldung von Matthias Deutschmann (»Stuttgart zieht Kabarettisten magisch an. Das liegt auch am politischen Personal.«) läuft ein Großteil der Menschen zum Cityring und ums innere Zentrum. Am Straßenrand bietet eine mittelalterlich gekleidete Gruppe an, mit Ruten auf Geld-, Filz- und andere Säcke einzuschlagen; »Sackparade 21« nennen sie ihre Einlage. Von einer Fußgängerbrücke haben sich zwei Aktivisten abgeseilt, um auf die Baumbesetzer zu verweisen, die seit Sommer die bedrohten Platanen im Schlosspark schützen. Die Demonstration nimmt jede Idee, mal mit Beifall, mal mit Gejohle, dankend auf. Vorbei geht’s am Landtag, weiträumig mit Gittern, Polizei und einer Pferdestaffel abgesperrt. Nach einer weiteren Stunde erreicht die Spitze des Zuges den Bahnhofsvorplatz.

Dort hatte mir Stunden zuvor ein Stuttgarter Genosse den »Kurswechsel«, ein Informationsblatt des Landesverbandes, in die Hand gedrückt. Er wirkte durchgefroren, bereits am Vormittag war er unterwegs gewesen, um Unterschriften für den Wahlantritt der Partei zur Landtagswahl zu sammeln. In der ersten Woche nach Geißlers Spruch sei die Stimmung unter den K21-Anhängern gedrückt gewesen, sagte er mir; inzwischen habe sich dies jedoch gewandelt. Wie recht er hatte!

Die nächste Demonstration findet am 10. Januar statt; übrigens: An der allerersten »Demonstration« gegen »S21« beteiligten sich an einem Herbsttag 2009 in der Königstraße drei Teilnehmer!