San Juan Chamula
In der mexikanischen Kleinstadt werden Maya-Traditionen in einer katholischen Kirche gelebt
Von Ronald Friedmann
Der kleine Ort San Juan Chamula liegt etwa zehn Kilometer von San Cristóbal de las Casas entfernt, der wichtigsten Stadt im Hochland von Chiapas. Auf den ersten Blick unterscheidet sich der Ort kaum von ungezählten anderen Kleinstädten im gebirgigen Herzen von Mexiko, doch wie so häufig täuscht der erste Blick. So gibt es in San Juan Chamula keine Hotels. Touristen sind nicht wirklich willkommen. Man findet sich mit ihrer Anwesenheit ab, denn sie bringen Geld. Aber mit Einbruch der Dunkelheit müssen sie, genau wie die übrigen Ortsfremden aus der näheren oder weiteren Umgebung, den Ort wieder verlassen. Nicht weniger streng ist der Umgang der Einwohner – Maya-Indianer aus dem Volk der Tzotzil – untereinander: In San Juan Chamula darf nur leben, wer dort geboren wurde. Einzige Ausnahme sind die Frauen, die einen Mann aus dem Ort geheiratet haben. Heiratet dagegen ein Mann eine »Auswärtige«, so muss er seinen Geburtsort für immer verlassen.
In keinem anderen Ort Mexikos ist die Kriminalität so niedrig wie in San Juan Chamula. Das Stadtgefängnis steht fast immer leer. Es ist vor allem das Schamgefühl, das potenzielle Täter abschreckt: Vom zentralen Platz des Ortes aus kann jeder Einwohner von San Juan Chamula sehen, wer gerade im Gefängnis einsitzt. Zu den Erziehungsmaßnahmen, die gegen Gesetzesbrecher angewandt werden, gehört die Verpflichtung, eine nicht geringe Stundenzahl gemeinnütziger Arbeit zu verrichten. Doch eine Strafe im eigentlichen Sinne ist dies nicht, denn freiwillige Arbeit für die Gemeinde ist für die Einwohner von San Juan Chamula ein selbstverständlicher Teil ihres Alltagslebens. Es gibt eine große Zahl von öffentlichen, hoch angesehenen Funktionen, für die man sich bewerben kann. Wer jedoch eine höhere Funktion anstrebt, muss erst nachgewiesen haben, dass er auch in den niederen Funktionen gute Arbeit geleistet hat. Die Angelegenheiten des Ortes werden regelmäßig im Beisein aller Einwohner beraten. Jeden Sonntag lädt der Bürgermeister zu einer Zusammenkunft auf dem zentralen Platz des Ortes ein, wo sonst an den Wochentagen ein großer und bunter Markt stattfindet.
Das erstaunlichste Erlebnis in San Juan Chamula ist jedoch der Besuch der Hauptkirche, die aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammt. Auch hier täuscht der erste Blick. Von außen erscheint das weiß getünchte Gebäude mit dem landestypischen, grün und blau abgesetzten einfachen Stuckdekor wie eine ganz gewöhnliche Kirche. Aber wenn man durch die schwere Flügeltür tritt, gelangt man in eine vollkommen fremde Welt: Dies ist keine katholische Kirche, wie man sie aus anderen Teilen der Welt kennt. Dies ist eher eine Stätte heidnischer Kulte, wo Schamanen geheimnisvolle Rituale zelebrieren. In der Tat kommt ein katholischer Priester nur zwei Mal im Jahr nach San Juan Chamula, um eine Messe zu lesen: zu Ostern und zu Weihnachten. Gelegentlich werden Taufen vorgenommen, doch auch hier bestimmen die Bewohner von San Juan Chamula den Ritus selbst.
Im Halbdunkel des überraschend großen Innenraumes werden die Unterschiede zu einer »klassischen« katholischen Kirche sofort sichtbar: Der Boden ist über und über mit frischen Piniennadeln bedeckt. Es gibt kein Kirchengestühl, dafür stehen überall auf dem Boden Hunderte brennende Kerzen. Jeden Augenblick, so der unmittelbare Eindruck, kann eine der Kerzen umstürzen und die Piniennadeln und damit die ganze Kirche in Brand setzen. Das scheint jedoch niemanden zu stören.
An der Stirnseite des lang gezogenen Raumes, der eigentlich das Kirchenschiff ist, gibt es tatsächlich einen Altar mit einer Christusfigur. Aber wichtiger für die vielen Gläubigen scheinen die zahllosen Heiligenfiguren zu sein, die in reich geschmückten Behältnissen aufbewahrt werden. Einige dieser Figuren sind wohl tatsächlich Schnitzarbeiten, andere sehen eher aus wie Modepuppen aus einem Geschäft für Kinderbekleidung. Alle sind aufwendig mit handgearbeiteten Stoffen drapiert. Die Luft im Innern der Kirche ist zu jeder Tageszeit weihrauchgeschwängert. An verschiedenen Orten sitzen Schamanen und sprechen – so hat es zumindest den Anschein – Gebete. Sie werden dabei von Musikinstrumenten unterstützt, die man als Mischung aus Harfe und Zither bezeichnen kann und deren Klang wesentlich dazu beiträgt, die Gläubigen in einen tranceartigen Zustand zu versetzen. Bei den Ritualen wird sehr viel Posh getrunken, ein Maisschnaps mit Zimtgeschmack, Verwendung finden aber auch – vor allem wegen der Farbe – Cola und Orangenlimonade.
Gelegentlich, so ist zu erfahren, wird in der Kirche ein Huhn geschlachtet. Der Schamane versucht dann, einen Kranken zu heilen: Die Krankheit soll den Körper des Menschen verlassen und in den Körper des toten Huhnes übergehen.
Ethologen aus dem In- und Ausland sind seit vielen Jahren bemüht, die Vorgänge in der Kirche zu beschreiben und vor allem zu verstehen. Doch die Einwohner von San Juan Chamula hüten ihre Geheimnisse. Sie machen deutlich, dass sie keine Folklore leben, sondern dass die für Außenstehende geheimnisvollen und seltsamen Rituale und Zeremonien ein wirklicher Teil ihres Lebens sind, dass sie die Gebräuche und Sitten aus der vieltausendjährigen Geschichte ihres Volkes – in angepasster Form – in die Gegenwart gebracht haben.
Im Inneren der Kirche von San Juan Chamula ist das Fotografieren übrigens streng verboten, weil es im Verständnis der Einheimischen eine Entweihung des Heiligtums und eine Beleidigung der Gläubigen wäre. Zuwiderhandlungen werden deshalb streng bestraft.