Disput

»Nur kleinliche Geister ...

... finden so etwas zweifelhaft«. Er ist schwer vors Mikrofon zu bekommen – DISPUT hat es geschafft: Der Weihnachtsmann im Interview

Er ist kein Mensch wie jeder andere. Eigentlich ist er gar kein Mensch. Auch wenn er so aussieht. Was aber genau ist er? Im Exklusivinterview mit DISPUT packt der Weihnachtsmann mal so richtig aus. Ein Gespräch über das sichtbare Wirkliche, populäre Missverständnisse, menschliche Wünsche, Schoko-Weihnachtsmänner und Unmögliches.

Im Büro des Weihnachtsmannes. Es ist muckelig warm. Am Kopf des Raumes knistert ein Kaminfeuer. Der Weihnachtsmann hat es sich in einer Sitzecke auf einem roten Sofa aus weichem Plüsch bequem gemacht und bietet dem Besucher Tee mit braunem Kandis an. Das Band startet.

Sind Sie eigentlich wirklich?

Sehen Sie mich? Oder sehen Sie mich etwa nicht?

Nun ja, ich sehe Sie vor mir sitzen. Aber bekanntlich ist nicht alles, was sich unseren Augen darbietet, real existent.

Was man sieht, das gibt es auch.

Darüber ließe sich philosophisch zumindest trefflich streiten.

Ich bin kein Philosoph, sondern Weihnachtsmann. Wollen Sie diese Diskussion mit mir führen, müssen Sie sich schon auf mein Terrain begeben. Wollen Sie aber eine Auseinandersetzung über Ethik oder dergleichen führen, bin ich gerne bereit, mich philosophisch handfester Begrifflichkeiten und Denkschemata zu befleißigen. Aber ich glaube, dafür sitzen wir nicht hier, oder?

Also noch einmal: Sind Sie wirklich?

So wirklich, wie Sie mich vor sich sitzen sehen.

Ich frage nur deshalb gleich zu Anfang unseres Gespräches, weil Ihre Existenz weithin als nicht gesichert gilt. Und man will ja wissen, wen man vor sich hat – beziehungsweise, ob man überhaupt jemanden vor sich hat.

Sie hegen dahin gehend Zweifel?

Es heißt, Sie seien einst als Werbegag einer bekannten Brausemarke ersonnen worden.

Diese Coca-Cola-Geschichte, ja, ich weiß. Das hängt mir bis heute nach. Aber die Sache wird nicht wahrer dadurch, dass sie ständig wieder und wieder kolportiert wird.

Also ist alles bloß ein Gerücht?

Sagen wir besser so: Die Geschichte beruht auf einem Missverständnis. Anfang der 30-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts lebte in den USA ein aus Norwegen stammender Grafiker namens Haddon Sundblom. Damals stellte man sich in Amerika meine Person mit rotem Mantel, mit Mütze und mit Bart vor. So, wie Sie sich mich heute vorstellen und wie ich vor Ihnen sitze. Haddon Sundblom griff diese Vorstellung auf und zeichnete für Coca-Cola im Rahmen einer Werbekampagne – mich. Und zwar so, wie es dem damals und bis heute gängigen Bild entsprach. Nur: Sundbloms Weihnachtsmann-Kopie bekam das Gesicht eines pensionierten Mitarbeiters der Brausemacher. Ich weiß nicht, ob sich der Rentner hierüber gefreut hat. Wahrscheinlich ist er bis zu seinem Lebensende auf der Straße von Kindern angesprochen und gefragt worden, warum er plötzlich einen Anzug statt den Weihnachtsmannmantel trage. Aber sei’s drum. Jedenfalls hat besagter Haddon Sundblom bis Mitte der 1960-er Jahre jedes Jahr für die Colabrauer einen Reklame-Weihnachtsmann gezeichnet. Seitdem schreiben einige mich als Erfindung dem Coca-Cola-Konzern zu. Wie gesagt: ein Missverständnis, aber ein hartnäckig sich behauptendes.

Wie stellt sich denn Ihr wirklicher biografischer Werdegang dar?

Du meine Güte! Wollen Sie wirklich einen lückenlosen Lebenslauf?

Ich bitte darum.

Dann säßen wir ja noch Weihnachten 2011 hier. Nun, lassen Sie es mich kurz machen: In einschlägigen Lexika und Enzyklopädien finden Sie alle wesentlichen Theorien über mich. Dass ich als Figur an den Heiligen Nikolaus angelehnt sei. Dass meine Wurzeln in einer nordischen Sagengestalt liegen, die irgendwo in Lappland wohnt. Folgt man den Lexika, wird die Sache mit meinem Lebenslauf genauso verzwackt wie die Frage meines Wohnortes: Die Menschen in den Vereinigten Staaten glauben, ich lebe am Nordpol; die Finnen sind der Auffassung, dass ich in Korvatunturi in Lappland wohne; die Dänen wähnen meine Heimat in Grönland und die Schweden in Dalarna.

Nein, junger Mann, so kommen wir nicht weiter. Wesentlich ist in meinen Augen etwas ganz anderes: Ich entstamme den Wünschen der Menschen. Mein Ursprung liegt in ihren Sehnsüchten. Das ist der eigentliche Ort meiner Geburt. Von dorther stamme ich. Der Rest ist Interpretation.

Welche Wünsche und Sehnsüchte der Menschen meinen Sie? Die nach vielen Weihnachtsgeschenken?

Man sollte die Menschen nicht materialistischer machen, als sie ohnehin schon sind. Natürlich, es gibt auch solche, die sich viele, teure, aufwendige Geschenke zu Weihnachten wünschen und glauben, ich sei der Hauslieferant dafür. Ich glaube aber unbeirrt, dass es vielen Menschen eigentlich um etwas anders geht, wenn sie ihre weihnachtliche Vorstellung von mir entwickeln: Sie suchen Frieden, Geborgenheit, Freundlichkeit, Wärme, Herzlichkeit, mitunter vielleicht auch eine wohlwollende väterliche Strenge. Fragen Sie Kinder, was sie mit dem Weihnachtsmann verbinden! Und deuten Sie die Antworten, die bei Kindern ja meistens etwas mit Geschenken zu tun haben, richtig! Schauen Sie hinter das Vordergründige! Dann besteht die Chance, einen Zipfel der Wahrheit zu erhaschen.

Der Weihnachtsmann lächelt freundlich und gießt seinem Besucher noch einen Tee ein.

Nun ja, zumeist sind es ja auch Kinder, die noch an den Weihnachtsmann glauben. Bei Erwachsenen stellt sich die Sache wohl etwas realistischer dar.

Wenn Sie nicht an mich glaubten, würde ich jetzt nicht hier vor Ihnen sitzen und Ihnen ein Interview geben können.

Sie meinen also, dass Sie vor mir sitzen, hat seinen tiefsten Grund in meinem Wunsch, es möge Sie geben?

Ja, und ich halte das für nichts Schändliches! Ich halte so etwas vielmehr für eine höchst realistische Sache! Mich würde ja interessieren, welcher Wunsch bei Ihnen den Ausschlag zu meinem Hiersein gibt.

Das wird mir jetzt etwas zu persönlich.

Nun gut, wir müssen das nicht vertiefen. Sie stellen die Fragen – ich antworte.

Vor einigen Jahren wurden wissenschaftliche Anstrengungen unternommen, mit dem Ziel, Ihre Nichtexistenz zu beweisen.

Sie meinen diese Sache, die als »Weihnachtsmann-Physik« Furore machte. Ja, das war sehr amüsant. Ich habe herzlich darüber gelacht, vor allem über folgende Theorie: Einige Leute haben ein Rechenmodell aufgestellt, welches besagt, dass ich mit 1.040 Sekundenkilometern reisen müsse, um in der Weihnachtsnacht alle Kinder der Welt zu beschenken. Da diese Geschwindigkeit unterhalb der Lichtgeschwindigkeit liegt, wäre das physikalisch im Prinzip möglich. Nach diesem Rechenmodell würde ich allerdings beim Beschleunigen und Abbremsen jedes Mal mit einer Kraft von 20,6 Millionen Newton belastet, was kein bekanntes Lebewesen überleben würde – den Bremsweg und die hierfür in kürzester Zeit nötige Energie mal ganz beiseitegelassen. Der Fehlschluss aus dieser Fehlrechnung: Ich existiere nicht. Da sage ich nur: Ho ho ho!

Ihre Antwort an die Zweifler?

Etwas, das seinen Ursprung in den Wünschen der Menschen hat, unterliegt keinen physikalischen Gesetzen. Ich bin nicht einfach nur schnell – ich kann sogar an vielen Orten gleichzeitig sein. Zwei Menschen in München und Hamburg, die mich am selben Tag zur selben Sekunde vor sich stehen sehen, haben beide recht: Ich stehe vor ihnen. An zwei Orten. Zur selben Zeit. Nur kleinliche Geister finden so etwas zweifelhaft.

Der Weihnachtsmann lächelt gütig. Irgendwo draußen hört man leises Glöckchenklingeln.

Noch Fragen?

Nur ein paar noch. Was bringt Sie auf die Tanne?

Wenn Leute Heiligabend mit Eiligabend verwechseln.

Stört Sie der Verzehr von Schokoladen-Weihnachtsmännern?

Ach! I wo! Ich deute das als Zuneigung der Menschen zu mir. Und so werden sie immerhin immer an mich erinnert.

Es gibt Menschen, die Ihnen vorhalten, Sie verdrängten immer stärker das vor allem in Süddeutschland und Österreich traditionell verbreitete Christkind. In Österreich hat sich vor Jahren sogar eine Initiative »Pro Christkind« gegründet …

… und in Deutschland ein Verein »Pro Weihnachtsmann«. Ich halte beides für unsinnig. Will man Menschen ihre Vorstellung von etwas, das sie sich wünschen, vorschreiben? Ich bitte Sie. Das Christkind und ich schütteln den Kopf über solche Unartigkeiten. Und zwar synchron.

Letzte Frage: Was vermag der Weihnachtsmann nicht?

Alles, was wahrlich überirdisch ist. Leider. Bei dem, was ich manchmal zu sehen bekomme, wünsche ich mir mitunter beinahe, ich wäre der liebe Gott oder wenigstens ein bisschen wie er. Dann könnte ich … Aber schreiben Sie das besser nicht. Das gibt am Ende nur Ärger mit ihm. – Noch Tee?

Interview: André Hagel