Disput

Zehn Euro die Stunde!

DIE LINKE in Mecklenburg-Vorpommern sammelt mit einer Volksinitiative Unterschriften für einen gesetzlichen Mindestlohn. Auch in Ludwigslust

Von Stefan Richter

Es ist der letzte Januardonnerstag, und es ist sonnig und lausekalt. Drei Frauen bauen neben dem Wochenmarkt einen kleinen Stand auf: DIE LINKE, dazu gut lesbar ihre Forderung: Zehn Euro Mindestlohn.

Sie stehen in Ludwigslust auf dem Alexandrinenplatz, an der Schlossstraße, dereinst schnurgerade angelegt für den kürzesten Kutschenweg von Schwerin zum hiesigen Schloss. Ludwigslust war Residenzstadt; hier hat man, wie Irene Korzitze berichtet, »nicht gearbeitet, hier hat man gedient.« Als sie in die südwestmecklenburgische Kleinstadt umgezogen war, schaute sie in Nachbargrundstücken auf Schilder wie »Hofgärtner« und »Hofgepäckträger«. Die Karl-Marx-Büste am Platz, vor Jahren abgebaut (und im Vorgarten eines Autohausbesitzers untergekommen), wich dem Standbild der »Reitenden Alexandrine«, Großherzogin von Mecklenburg-Schwerin.

»Bei uns wächst in Ruhe die Kraft, blüht die Freude und überdauert stille, einfache Schönheit den Wechsel der Zeiten« – Mit diesem alten Zitat von einem Senator und Rechtsanwalt macht die Stadtverwaltung im Internet auf das neue Ludwigslust aufmerksam.

Die Kleinstadt hat 12.200 Einwohnerinnen und Einwohner, kaum Industrie und jüngst den Wettlauf um den Zuschlag als Kreisstadt verloren. Im Landkreis Ludwigslust-Parchim leben 4.200 – welch schlimmes Wort für eine skandalöse Notwendigkeit – »Aufstocker«, das heißt, für ihre Arbeit erhalten sie lediglich einen Hungerlohn, den der Staat mit einem Zuschuss zu einem Minimum ergänzt. Im Verlaufe von zehn Jahren, so hat es der DGB Nord in einer Studie 2011 errechnet, wurden in Mecklenburg-Vorpommern 100.000 Vollzeit-Stellen abgeschafft. Die Gewerkschaften sprechen von einem dramatischen Ausmaß. Auf der anderen Seite: 32 Prozent der ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten gelten als bedürftig und müssen weiterhin Hartz IV beziehen. (Zum Vergleich: In Hamburg gilt dies für rund 17 und in Schleswig-Holstein für rund 15 Prozent.) Im Durchschnitt werden zwischen Ludwigslust, Rügen und Usedom die bundesweit niedrigsten Löhne gezahlt – nur 79 Prozent des durchschnittlichen Bruttoverdienstes.

In Ludwigslust, so Irene Korzitze, gäbe es ausschließlich im Öffentlichen Dienst und für Ärzte eine faire Entlohnung – aber schon nicht mehr für die Sprechstundenhilfen. Es gibt Friseusen, die in der Residenzstadt für 3,40 Euro in der Stunde waschen, schneiden, föhnen. Wer kann, pendelt nach Hamburg.

Die Niedriglohnpraxis von heute führt geradewegs zur Altersarmut von morgen. Bittere Perspektiven für die Jugend. Sie selbst, erzählt Irene, hat zwei Kinder großgezogen und 46 ½ Jahre gearbeitet, wurde schließlich zwangsverrentet und erhält nun eine Rente von »700 Euro schieß mich tot«. Die Kinder werde es wohl noch wesentlich härter treffen.

Am 5. Januar 2012 startete die Volksinitiative »Für einen Mindestlohn von zehn Euro pro Stunde«. Mit ausreichend vielen Unterschriften bekräftigt, soll der Landtag die Landesregierung auffordern, sich im Bundesrat unverzüglich für einen einheitlichen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von zehn Euro pro Stunde einzusetzen. Außerdem soll der Landtag die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass bei öffentlichen Aufträgen durch das Land die Einhaltung von Tarifverträgen gewahrt wird, zumindest aber soll ein Stundenlohn von (mindestens) zehn Euro pro Stunde gezahlt werden.

Damit sich der Landtag mit dieser Initiative überhaupt befasst, müssen 15.000 Unterschriften her. Was angesichts der herrschenden Arbeitsverhältnisse als eher leichte Aufgabe erscheint, ist es im Alltag beileibe nicht. Neben Irene gehen an diesem Tag Melitta Roock und die junge Landtagsabgeordnete Jacqueline Bernhardt auf die Passanten zu. Ihre Ansprachen klingen – je nach Grad der Bekanntheit – von betont höflich bis launig-direkt: »Darf ich Ihnen den Hund halten?«, »Glückwunsch nachträglich zum Geburtstag!«, oder auch: »Komm mal her, unterschreiben!«. Zumeist sind es Ältere, die sich auf ein Gespräch oder gar eine Unterschrift (samt Adresse) einlassen. Eine Radfahrerin, die nicht fotografiert werden möchte, erzählt von ihrer Zweitarbeit: Bei vier Euro die Stunde komme ja kaum das Fahrgeld raus – dann muss sie weiter. Eine andere nutzt die Gelegenheit und erkundigt sich nach dem Termin der Frauentagsfeier. Der Nächste legt wortkarg eine ausgefüllte Liste auf den Tisch – er hatte das Formular in der Vorwoche beim Auftakt der Volksinitiative mitgenommen. Die drei Genossinnen freuen sich, eine verrät: Und er ist parteilos!

Jacqueline Bernhardt machen solche Aktionen Spaß: »Erstens hat das was mit Glaubwürdigkeit zu tun; ich erinnere mich an den Blumenstand, wo sie im Wahlkampf gesagt hatten: Ihr steht doch hier nur alle paar Jahre, vor den Wahlen. Und zweitens sammelt man Erfahrungen, erfährt, was die ›Leute von unten‹ denken.«

Dennoch bleibt es ein mühsames Unterfangen. »Die Leute lassen sich zu viel gefallen – die, die es angeht, kommen nicht«, weiß Melitta Roock, Vorsitzende des LINKE-Ortsverbandes mit 70 Mitgliedern. 20 von ihnen sind (noch) aktiv, die Berufstätigen können allenfalls am Wochenende mal mitmachen bei Aktionen. Aber seit Jacqueline 2010 als Bürgermeisterin kandidierte und es seit dem vorigen Jahr mit ihr eine LINKE-Landtagsabgeordnete direkt aus der Region gibt, sei die Partei wieder deutlicher spürbar. Gut 20 Besucher kamen zu einer Mindestlohn-Veranstaltung mit dem Fraktionsvorsitzenden Helmut Holter, die Presse hat darüber berichtet.

Im Wochenmarktwagen nebenan hofft die Agrarproduktion Lübtheen (aktuell im Angebot: Hackbraten und Landmettwurst) auf Kundschaft, daneben hofft der »Gockel-Express«. Sie haben an diesem eiskalten Vormittag auch nicht mehr Interessenten als die drei am »Mindestlohn«-Stand. Und auch die machen weiter.