Disput

Mein Lieblingsthema

Kerstin Kassner über Urlaub für alle und eine »volle« Insel, über Ausschusssitzungen und Straßenprotest

Tourismus ist doch ein herrliches Thema: Sommer (bzw. Winter, Frühjahr, Herbst), Sonne und Entspannung. Da können alle mitreden. Du aber kommst vom Fach und redest im Tourismusausschuss des Bundestages mit. Was hat der Tourismus mit der Politik zu schaffen?

Er ist eine bedeutende Wirtschaftskraft. Und in vielen Regionen, vor allem in den östlichen Bundesländern, der einzige Bereich, der prosperiert, wo sich was tut, wo sich Menschen selbständig gemacht haben und Fuß fassen konnten, wo Arbeitsplätze geschaffen wurden. Das ist für mich als LINKE ein besonderes Anliegen.

Tourismus ist mein Lieblingsthema, seit vielen Jahren. Ich habe das klassisch gelernt: war Kellnerin, bin Hotel- und Gaststättenfachfrau mit Diplom, habe als Landtagsabgeordnete und dann als Landrätin von Rügen ständig mit diesem Thema zu tun gehabt. Und jetzt im Bundestag.

Womit befassen sich – möglichst in Kurzfassung – eure Ausschusssitzungen?

Zum Beispiel mit Tourismus im ländlichen Raum, mit Förderprogrammen, mit der Vorbereitung auf Jubiläen wie dem Luther-Jahr 2017 und 25 Jahre Deutsche Einheit. Und immer wieder mit Verkehr – ob das die Deutsche Bahn, die Fernreisebusse oder den ÖPNV betrifft. Wir beschäftigen uns mit Gesetzesvorlagen wie zum Mindestlohn oder informativ mit europäischen Vorhaben wie zur Luftverkehrssicherheit.

Der Tourismusausschuss ist sicherlich nicht der bedeutendste Fachausschuss im Bundestag. Wir arbeiten sachlich und auch fraktionsübergreifend, weil wir den einen Gedanken haben: die touristische Entwicklung Deutschlands voranzubringen.

Eigentlich ist Tourismuspolitik Länder- und kommunale Sache. Aber das ist nirgendwo festgeschrieben, was ich mir wünschen würde. Und ich wünsche mir weniger Kleinstaaterei und dass es ein paar Richtlinien gäbe, an die sich alle Bundesländer halten, damit man länderübergreifend vernünftig arbeiten kann. Zum Beispiel: Radwege – die enden ja nicht an Ländergrenzen.

Was bedeutet Tourismuspolitik aus linker Sicht?

Zum einen: Wir wollen Urlaub für alle. Das heißt: Menschen sollen unabhängig vom Geldbeutel die Möglichkeit haben, mal zu verreisen, sich klassisch beim Reisen bilden zu können. Da geht es uns vor allem um Kinder- und Jugendreisen: Klassen sollen fahren können, ohne dass Mitschülerinnen oder Mitschüler aus finanziellen Gründen ausgeschlossen sind. Und natürlich geht es um ein breites, inhaltsreiches Angebot. Wir wollen, dass Kinder- und Jugendreisen Bestandteil von Bildung werden. Das gemeinsame Erlebnis bei solchen Reisen ist sehr wichtig. Denn viele Kinder und Jugendliche kennen das ansonsten nicht.

Der zweite Schwerpunkt: Menschen mit Beeinträchtigungen ebenfalls Reisen zu ermöglichen – nicht allein dem klassischen Rollstuhlfahrer, sondern auch Menschen, die andere sensitive Einschränkungen haben oder sich mit ihrer Gesundheit auf die Umgebung einstellen müssen. Große Arbeit hat da mein Vorgänger – Ilja Seifert – geleistet, der als Rollifahrer stets nachdrücklich auf dieses Thema aufmerksam gemacht hat. Ich will das fortsetzen.

Urlaub für alle!? – Ein erheblicher Teil der Bevölkerung hat noch nie eine Urlaubsreise unternehmen können, nicht mal für eine Woche. Warum ist das als Forderung nicht zu hoch gegriffen?

Es stimmt schon: Dieses Ziel ist nicht so bald zu erreichen. Wir können jedoch gute Fortschritte feststellen, gerade bei Kinder- und Jugendreisen. Da hat unsere beharrliche Arbeit einiges bewirkt. In der vorigen Legislaturperiode wurden in einer Studie für den Ausschuss Defizite festgestellt: insbesondere unterschiedliche Regeln in den Ländern, finanzielle Engpässe bei vielen Familien. Darauf kann man Einfluss nehmen: bei der Bildungsministerkonferenz oder in der Debatte um Bildung und Teilhabe für Menschen mit geringen Einkommen.

Dabei ist Bildung Ländersache, und Zuschüsse könnt ihr nicht verteilen … Bleibt es da nicht bei gut gemeinten Empfehlungen?

Nicht nur. Wir sprechen auch mit den Verantwortlichen. Und dadurch, dass der gesamte Tourismusausschuss dieses Anliegen nach langer Vorarbeit zu seinem Thema gemacht hat, erreichte es auch schon eine andere Dimension.

Was ist mit Beziehenden von Arbeitslosengeld II und ihren Reisewünschen?

Das ist leider noch ein sehr großes und unbearbeitetes Feld. Eigentlich kümmert sich sonst niemand darum, dass auch Menschen mit geringem Einkommen verreisen können.

Kümmern wir uns darum?

Na ja, selbst wenn ich auch noch keine Antworten dafür habe – wir weisen darauf hin, wir fordern es. Ich meine unsere Forderungen zur Erhöhung des Hartz-IV-Satzes oder die Debatte zum bedingungslosen Grundeinkommen. Das würde die Möglichkeiten, reisen zu können, vergrößern. Wir lassen da nicht locker. Es ist zu wichtig.

Das Thema Tourismus hat so unterschiedliche Seiten wie das gewöhnliche Urlaubswetter. Dem wachsenden Angebot, sprichwörtlich die ganze Welt kennenlernen zu können (und sogar den Weltraum!), steht die zunehmende Belastung für die Umwelt entgegen. Wie gehst du mit solchen Widersprüchen um?

Der Tourismus steht natürlich nicht für sich allein da, er befindet sich nicht in einem luftleeren Raum. In der Bundestagsfraktion bin ich im Arbeitskreis 2, der beschäftigt sich mit Regionalpolitik und Infrastruktur. Da gehören Wirtschaft, Verkehr, Umwelt dazu. Dort habe ich den Austausch mit den anderen Fachbereichen. Das Zusammenspiel untereinander lässt am Ende linke Positionen deutlich werden: dass wir uns beispielsweise für die Kerosinsteuer stark machen. Dass man umweltfreundliche Reisemöglichkeiten nutzt. Dass wir uns für die Verbesserung der Angebote der Deutschen Bahn einsetzen.

Was verstehst du unter nachhaltigem Tourismus?

Einen, der Ressourcen schont und mit der Umwelt pfleglich umgeht. Massentourismus, der alles niederwalzt und niedertrampelt, darf nicht noch gefördert werden …

Aber der bringt Geld, sagen nicht wenige Unternehmen. Als langjährige Landrätin kennst du doch bestimmt derartige Großpläne ...

Ja. Im Tourismuskonzept der Insel Rügen haben wir jedoch festgelegt, dass wir nicht mehr Urlaubsgäste als Einwohner auf der Insel haben wollen: 70.000. Das soll die Obergrenze sein. Wir müssen aufpassen, dass das Verhältnis nicht womöglich kippt.

Es gelang uns, den Bau überdimensionierter Ferienressorts auf der Insel zu verhindern und stattdessen mehr das Vorhandene mit Fingerspitzengefühl zu entwickeln. Darum will ich mich weiterhin kümmern. Wir müssen das Nachdenken über vernünftigen Tourismus und das Verantwortungsbewusstsein in den Regionen stärken.

Hat sich das Umweltbewusstsein verändert?

Auf Rügen in jedem Fall. Nachdem Anfang der 90er Jahre riesige Kapazitäten weggebrochen waren (Betriebsferienheime, FDGB-Feriendienst, Reisebüro), war man 1992, 1993 froh über jede neue Pension oder jedes neue Hotel, weil damit Arbeitsplätze und Wertschöpfung verbunden waren. Mittlerweile ist die Insel in der Hauptsaison oft richtig voll. Das geht so nicht weiter. Binz hat deshalb für sich klar erklärt, keine neuen Kapazitäten zu wollen. Andere Orte ebenfalls. Das Bewusstsein zum Umsteuern ist da.

Stimmt die Klage, dass die Einnahmen, das Geld, das mit dem Tourismus verdient wird, letztlich nicht in die Region fließt?

Das ist ein diffiziles Problem. Es gibt viele Hotelketten mit Einrichtungen auf der Insel, die tatsächlich die Hauptsteuerbeträge an ihren Sitzen in anderen Bundesländern entrichten. Aber auf Rügen haben auch zahlreiche Einheimische touristische Unternehmen aufbauen können. Hinzu kommt, dass gebaut, renoviert, gekauft, gesäubert wird und so einiges in der Region bleibt.

Vor einigen Jahren hat DIE LINKE in Mecklenburg-Vorpommern – auf der neuen Brücke zur Insel Rügen – mit einer spektakulären Aktion für gute Arbeit im Tourismus geworben. Warst du dabei?

Na klar. Das war am 4. Juli 2011. Wir haben über der Fahrbahn ein riesiges Banner gehisst: Ihnen einen schönen Urlaub und der Kellnerin einen guten Lohn! Das ist nach wie vor aktuell, weil viele Beschäftigte sehr mies bezahlt werden.

7,50 Euro sind die niedrigsten Gehälter, die von den Mitgliedern des Hotel- und Gaststättenverbandes Dehoga gezahlt werden. Aber: Nur die wenigsten Hotels und Gaststätten auf Rügen sind Mitglied der Dehoga. Ich kenne Fälle, dass Leute als geringfügig beschäftigt werden, 450 Euro bekommen – und wöchentlich fünf oder sechs Tage, jeweils zehn Stunden lang, arbeiten. Sie werden regelrecht ausgenutzt. Leider ist das gang und gäbe.

Was bedeutet die Einführung des Mindestlohnes?

Die Hotelbranche jammert sehr. Die wirklich gut geführten Hotels zahlen jedoch bereits jetzt deutlich über 8,50, sie wollen ihre Fachkräfte nicht verlieren – und das nicht nur in der Hauptsaison, sondern das ganze Jahr über. Gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben, ist ein Qualitätskriterium.

Wir bleiben dabei: Der Mindestlohn muss ohne Ausnahme kommen!

Gleichzeitig müssen kleine und mittelständische Unternehmen unterstützt werden, beispielsweise durch eine wieder gesenkte Mehrwertsteuer von sieben Prozent, übrigens nicht nur für die Gastronomie, auch im Handwerk.

Für einen Hotelier in Greifswald haben wir mal ausgerechnet, was die Einführung des Mindestlohnes bei ihm bedeuten würde: Er hätte einerseits deutlich höhere Lohnkosten. Wir haben andererseits die Einsparungen durch die reduzierte Mehrwertsteuer gegengerechnet – eine Differenz bliebe. Aber der Hotelier stimmte mit mir darin überein, dass durch die Kaufkrafterhöhung auch regional mehr Umsatz bei ihm drin wäre. Letztlich wäre es nahezu ausgeglichen.

Höhere (angemessene!) Löhne = höhere Preise für Urlauber = weniger bezahlbare Angebote. Stimmt diese Gleichung?

Sicher, es wird nicht billiger werden. Die Arbeit hat ihren Preis, und den muss man vernünftig weitergeben. Wie gesagt, ich wünschte mir Hilfen für Unternehmen.

Eure Familie hat selbst eine kleine Pension unweit vom berühmten Kap Arkona. Wie sieht’s bei euch mit fairem Lohn aus?

Unsere Kollegen bekommen deutlich über 8,50 Euro. Wir haben drei Mitarbeiter: unsere Köchin, unser Sohn und im Sommer ein Freund von unserem Sohn. Auf jeden Fall ist mir Fairness sehr wichtig, da muss ich auch Vorbild sein.

Würdest du dich nun als Bundestagsabgeordnete protestierend wieder mit auf die Rügen-Brücke stellen?

Jederzeit. Das Problem besteht ja weiter. Damals gehörte für mich als Landrätin ein bisschen Mut dazu. Das Straßenbauamt hat dann auch gleich eine fette Rechnung geschickt. Und es hätte sein können, dass mich der Kreistag rügt oder der Innenminister abkanzelt.

Voriges Jahr haben wir an den Stränden Karten mit der gleichen Botschaft verteilt. In den großen Ostseebädern machen wir auch immer eine Bädertour, wo wir mit den Urlaubern über dieses Anliegen diskutieren – auch in diesem Jahr.

Letzte, nahe liegende Frage: Wo erholst du dich am liebsten?

Großes Fernweh habe ich nicht, ich bin froh, zu Hause sein zu können. Rügen ist einfach schön.

Interview: Antje Kind und Stefan Richter

Kerstin Kassner, 56, ist Bundestagsabgeordnete und Kreisvorsitzende der LINKEN auf Rügen (Mecklenburg-Vorpommern). Sie ist tourismuspolitische Sprecherin der Linksfraktion und Mitglied im Bundestagsausschuss für Tourismus.