Disput

Rheinfall und Anstieg

Mein Radweg von Basel nach Graubünden

Von Stefan Richter

»Am Ortsrand von Versam scharf links gelangen Sie steil bergab zur Rheinschlucht.« Na, wenn das kein Ziel ist?! Steil bergab! Zur Rheinschlucht! Und, he: Scharf links!

Es sind dieserart Stichworte, die mich bewegen - aufs Rad und mit dem selbigen. Vier Tage lang, 350 Kilometer. Doch vor jenes Versam als vermeintlichem Höhepunkt hat der Radwandergott die Mühen der Ebenen platziert. Und die beginnen für mich diesmal dort, wo frühere Rheinradtouren endeten: in Basel, am Bahnhof. (Den erreichte ich bequem und recht preiswert mit dem Nachtzug; die Karte fürs Velo gibt's für maximal zehn Euro. Zur Wahrheit gehört: Die Deutsche Bahn macht es Radwanderern nicht leicht: Ihr Angebot an Fernzügen, in denen das Rad mitgenommen werden kann, ist dürftig. ICE sind völlig tabu für unsereins.)

In meinem Gepäck: ein 140-seitiger »wetter- und reißfester« Radführer. Der verspricht nicht allein Versam, sondern hält auch alles (bereit), was an Ratschlägen für Sehenswürdigkeiten, Streckenvarianten, Herbergen wie Werkstätten (und die können wichtiger als wichtig werden!) entlang des Rheins nützlich sein könnte. Allerdings alles beschrieben vom Hochrhein in der Zentralschweiz bis nach Basel. - Ich starte in die Gegenrichtung. Das bedeutet: jede (sehr detaillierte) Beschreibung von hinten nach vorn lesen. Der letzte Teilsatz des Büchleins lautet beispielsweise, wetter- und reißfest: Um in die Altstadt und zum SBB-Bahnhof zu gelangen, müssen Sie die Wettsteinbrücke überqueren, auf die eine Rampe hinaufführt. Heißt ergo übersetzt für mich: Nachdem ich SBB-Bahnhof und Altstadt hinter mich gebracht habe, überquere ich die Brücke, von der eine Rampe hinabführt … Alles klar? Auf denn!

Für den ersten Abschnitt nach Schaffhausen habe ich die Wahl: entweder auf der Schweizer Seite oder auf der deutschen. Ich wähle letztere. Das ist keine Richtungsentscheidung, sondern purer Pragmatismus: Diese Route ist 16 Kilometer kürzer. Was schöne Ansichten und Aussichten betrifft, unterscheiden sich beide Strecken wohl ohnehin kaum. So wenig wie Laufenberg in Baden und Laufenberg in der Schweiz.

Die Windungen der Ortsgeschichten und Grenzverläufe stehen denen des Flusses in nichts nach. Alle paar Kilometer taucht ein Grenzschild auf, ein Schweizer, ein deutsches, mal eine Zolltafel, dann eine verwaiste Zollstation - aber, Achtung, auf einer Nebenstraße auch mal, in beiden Richtungen, eine mobile Kontrolle der Grenzwache. Ich radle unbehelligt vorüber.

Dafür halte ich gleich hinter Schaffhausen in Büsingen, freiwillig. Das Örtchen ist ein Kuriosum. Ist Gegenstand von wissenschaftlichen Abhandlungen und von launigen Reportagen. Büsingen ist nämlich umzingelt: vorn Schweiz, hinten Schweiz, links und rechts: richtig, ebenfalls Schweiz. Kurz hinter der Kantonshauptstadt bietet die Exklave Büsingen zwei Postleitzahlen und zwei Vorwahlen und - für Neugierige - einen »Exklavenweg«. Der ist in rund zweieinhalb Stunden erwanderbar, »kann aber auch abgekürzt werden«. Ich erspare mir selbst die Abkürzung, stoppe stattdessen vor dem Gemeindehaus und fotografiere zwei Telefonzellen: von Telekom und Swisskom. Und vergesse zu testen, ob sie denn auch funktionieren.

In Bad Säcklingen führt, wie in anderen der hübschen mittelalterlichen Städtchen, eine Holzbrücke über den Rhein. Touris und Einheimische vereint auf dem Holzweg. Ein paar Meter weiter gönne ich mir einen Eiskaffee; eine adrett gekleidete Endfünfzigerin setzt sich dazu und beginnt bereits beim Hinsetzen ein Interview mit sehr ausführlichem Monologanteil: Ach, aus Berlin?! Da würde sie gern mal einige Monate wohnen. Auch in Amsterdam. Aber die Kriminalität - die ist doch ein Problem, nicht?! Und die Ausländer?! Sie sei gegen die EU. Die sehr offene Dame, Schweizerin, erzählt von ihrem Leben einige Dutzend Kilometer vom Rhein entfernt und über ihre 37 Ehe-Jahre und darüber, dass jetzt der »Kuchen mit meinem Ex-Mann endgültig geteilt« ist und sie seit Kurzem, als Ruheständlerin, ins deutsche Bad Säcklingen umgezogen sei. Sie habe gründlich nachgerechnet: 200 Euro spare sie dadurch an Steuern …

Ich fahre weiter. Schaffhausen. Der Rheinfall ist in seiner Frühvorstellung, wenn die Touristenströme noch nicht den Weg zum Strom gefunden haben, ein imposantes Spektakel. Die Wassermassen rinnen, fließen, plattern, schießen … 23 Meter hinab, und das in einer Breite von 150 Metern. Die Sonne strahlt. Und ich schwitze, das Rad aus dem Tal wieder hinauf in den Ort zu schieben. Der Ort heißt jedoch nicht Schaff-, sondern Neuhausen. Dass alle Welt den »Rheinfall bei …« mit der Stadt Schaffhausen in Verbindung bringt, muss das Ergebnis umtriebiger PR-Leute sein.

Am zweiten Tag strebe ich gen Bodensee und entlang seines Ufers gen Osten. Er hat sich, würde mein Sportlehrer nachsichtig urteilen, bemüht. Jedenfalls fällt mir das Radeln am Seeufer besonders schwer. Der Wind windet unnachsichtig aus Ost und Nordost, die Kräfte lassen kräftig nach, und so entschließe ich mich, noch große Ziele vor Augen, einige Kilometer die Eisenbahn zu nutzen. Den Grund für diese streckenweise Kapitulation trägt die Bahn hier in ihrem Namen: »Tarifverbund Ostwind«. Danke auch.

Quartier mache ich diesmal nicht in der Schweiz und nicht in Deutschland, sondern in - Österreich. In Vorarlberg, wie der Wirt gleich mal klarstellt. Höchst, zweiwestlichste Gemeinde also von Vorarlberg (und vermutlich auch von Österreich), dieses Höchst liegt flachst beim Bodensee.

Am nächsten Morgen wird alles anders für mich. Ich mache die Biege, zweige ab nach rechts, nach Süden. Auf einem erstklassigen Radweg, direkt auf dem Rheindamm, rutscht es nur so. Das liegt am leichten Rückenwind - und es liegt an dem Panorama, an den Bergen, die von nun an links und rechts und überhaupt den Weg säumen. Der Anblick setzt Kräfte frei. Einen Abstecher nach Liechtenstein schenke ich mir, nicht aber nach Sargans mit seinem Burgschloss oder seiner Schlossburg aus dem 13. Jahrhundert.

Immer wieder kreuzen lokale Radwege meinen Fernweg. Die Schilder ähneln sich, an mancher Gabelung fehlt »mein« Schild, so dass ich vom rechten Weg abkomme. Am Bodensee landete ich deshalb an einer Fährstelle - als ich umkehre und einen Mann auf einer Leiter um Auskunft bitte, sehe ich im selben Moment, was er in seinen Händen hält: das richtige Radschild, er war beim Austauschen.

Hinter Raganz tauche ich direkt neben der Autobahn auf, und in Landquart lande ich einigermaßen irritiert (»Betriebsfremden Personen ist der Zutritt verboten«) mitten in der örtlichen Tierkörpersammelstelle bzw. Kadaversammelstelle. Soweit ist es mit mir noch nicht.

Im Gegenteil. Gegen Mittag erreiche ich Chur, älteste Stadt der Schweiz und Metropole Graubündens, 593 Meter hoch gelegen. Das nächste Ziel wäre Disentis. Wäre, Möglichkeitsform. Zutreffender: Unmöglichkeitsform, weil das Dorf 1.130 Meter hoch liegt. Dort hinauf mit dem 8-Gang-Rad wäre wirklich nichts für Vater seinen Sohn, ich bin schließlich keine 60 mehr. Folglich kaufe ich ein Billet der Räthischen Bahn, die 140 Jahre alt ist und mit unzähligen eindrücklichen Tunneln, Brücken und Viadukten eine eigenständige Attraktion darstellt (von Sauberkeit und Service gar nicht zu reden). Die Attraktion rollt durch jene Rheinschlucht, entstanden nach einem gewaltigen Bergsturz. Übrig blieben Rhein und steile Kalksteinklippen. Und kein Platz weiter für mehr als ein Bahngleis. Nicht mal für einen Radweg, geschweige denn für eine Straße.

Der Zug endet in Disentis. Von hier könnte man mit Rad (ohne mich!) oder einer weiteren Bahn zum Oberalppass (2.045 Meter). Ich will am vierten Tag meine Königsetappe bestreiten: von Disentis durch Versam nach Chur. Halb sechs erwacht die Fernstraße - ein Schwung Kühe wird durch den Ort geleitet; ihre Glocken kommen denen der Kirchen zuvor. Drei Stunden später bin ich auf dem Sattel und habe nach einer kleinen Abfahrt bereits an der ersten (und einzigen) Kreuzung des Ortes Mühe, das Rad rechtzeitig hinter einem haltenden Auto zum Stehen zu bringen. Kurz darauf wendet sich der Radweg von der Straße ab, er wird leider zu einem Feldweg, dekoriert mit unzähligen Steinen unvergleichlicher Größen. An gemütliches oder womöglich rasantes Hinabfahren ist hier nicht zu denken - nur bremsen, bremsen und den gröbsten Steinen ausweichen! (Derart beschäftigt, kommt mir überhaupt nicht in den Sinn, diese echten Herausforderungen angemessen fotografisch zu dokumentieren.)

Ein Bauer fährt mir mit einem kleinen Traktor entgegen, er (der Bauer) schüttelt den Kopf, worüber auch immer. Für Nachfragen fehlt mir momentan jegliches Interesse. Unten am Rhein angekommen, geht's über ein Brückchen - und steil hinauf. Nach gut einem Kilometer schieben sehe ich ein Radhinweisschild. Es schaut etwas merkwürdig aus: Es zeigt ein Vorderrad, das nach oben in die Luft gerichtet ist. Ich schiebe weiter, gelange nach einem zweiten Kilometer in ein ruhiges Dorf, Cavardiras. Ich fotografiere wehrschaffte Häuser, das verschafft mir wenigstens eine Pause mit Anstand. Bald geht's hinab. Das ist fast wörtlich zu nehmen. Auf dem Geröllweg sind stellenweise nur stark gebremste acht bis zehn Stundenkilometer möglich. Abwärts! Als ich endlich, endlich bei Pardomat fast auf Rheinhöhe wieder Land für mich sehe und mich umschaue, erblicke ich in meiner Gegenrichtung ein Schild, es kann nur als Warnung gedacht sein: Höhenunterschied auf 2,3 Kilometer - 230 Meter. Und das »Vorderrad in der Luft«? Das ist die Einladung für Mountainbiker! Ich war von meinem Weg abgekommen.

In Trun zeichne ich mich selber aus und wechsle auf die Fernstraße. Sie ist wenig befahren und in bester Form, und vor allem führt sie angenehm bergab. Ich genieße es. Bis ich in Ilanz lande und damit vor der Entscheidung des Tages. Im Internet empfiehlt »Veloland Schweiz, Rhein-Route« für die folgenden Kilometer bis Reichenau-Tamins die Umfahrung von Versam, ausgerechnet Versam, mit der Rhätischen Bahn: »Grund: eingesparte Höhenmeter 300 m«. Ich stehe als Flachlandberliner also direkt vor der einladenden Bahn, grüble und grüble und wähle schließlich das kleine Abenteuer: »Im Ort der Hauptstraße folgen über eine längere und kräftige Steigung nach Valendas. Auf der Ortsdurchfahrtsstraße hindurch steil bergauf nach Carrera - auch hinter dieser Ortschaft noch weiter bergauf bis zum Steinbruch …« So steht's wetter- und reißfest im Radplan, und der hat recht. Ich strample und schiebe und schwitze und strample. Linkerhand der Blick hinunter in die Rheinschlucht. Dann taucht schließlich jenes Versam, 937 Meter hoch, auf (oder besser: ich tauche in Versam auf). Geschafft! Für mich der Höhepunkt der Chur-Tour.

Im »Rössli« nehme ich eine Bouillon. Dann die Abfahrt auf der Straße. Aber nicht, wie anfangs angekündigt, scharf links, sondern in mehreren Kehren zunächst zu einer ampelgeregelten Baustelle, anschließend weiter bis zur Rabiusa (die »Tobende«), einem Rheinnebenfluss, von dort nochmals ein Stück bergan und schließlich fast schnurgerade bergab, sechs Kilometer. Grandios. Alles andere wird zur Zugabe.

Jährlich werden in Deutschland 153 Millionen Tagesreisen und 22 Millionen Übernachtungen durch in- und ausländische Fahrradtouristen getätigt (Deutscher Tourismusverband e.V.). Die im Lande meistbefahrenen Radfernwege waren 2013 der Elberadweg, der Ostseeküsten-Radweg und der Weser-Radweg. (ADFC-Reiseanalyse 2014)