Am Scheideweg
Kolumbien – Innenansichten eines Friedensprozesses
Von Dietmar Schulz
Es war eine ziemliche Überraschung, als im Oktober 2012 die kolumbianische Regierung und die Guerillabewegung FARC-EP (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) die bevorstehende Aufnahme von Friedensverhandlungen in Havanna bekanntgaben. Unter Vermittlung von Norwegen und Kuba waren in vertraulichen Gesprächen fünf Themenkreise für die Verhandlungen definiert worden: die Entwicklung der ländlichen Gebiete, einschließlich einer Agrarreform, die Reintegration der demobilisierten FARC-Mitglieder in Politik und Gesellschaft, ein Waffenstillstand und die Beendigung des bewaffneten Konfliktes, der Kampf gegen den Drogenhandel sowie die Entschädigung der Opfer.
Als Zeitraum war von einem Jahr die Rede. Anfangs gab es auch schnelle Fortschritte bei einer Reihe von Themen. Inzwischen sind mehr als zweieinhalb Jahre vergangen, und trotz aller Fortschritte treten die Verhandlungen im Moment auf der Stelle, ja drohen sogar zu scheitern.
Bei einem Kolumbien-Besuch mit einer Delegation der Europäischen Linken hörte ich kürzlich immer wieder die Einschätzung, dass die Beendigung des bewaffneten Konfliktes noch nie so nahe und zugleich so bedroht war. Das hat sicher auch mit einem grundlegenden Interessenskonflikt der beiden Verhandlungsseiten zu tun: Während die FARC eine Lösung der politischen und sozialen Konflikte anstrebt, die den Hintergrund der jahrzehntelangen bewaffneten Auseinandersetzungen bilden, geht es der Regierung darum, die Kämpfe zu beenden und die Guerilla zu demobilisieren, ohne möglichst allzu viel am gegenwärtigen politischen und ökonomischen System Kolumbiens ändern zu müssen.
Um ihr Ziel eines »billigen Friedens« zu erreichen, setzt die Regierung Santos vor allem auf die Kriminalisierung der Guerilla wie überhaupt aller Formen des politischen und sozialen Protestes. Nach Meinung der Regierung kann es in Havanna nur noch darum gehen, dass die Guerilla aufgibt, die Waffen niederlegt, zu ihrer Verantwortung steht und ihre Strafe entgegennimmt – als vermeintlich alleinige Verantwortliche des bewaffneten Konfliktes!
Dementsprechend werden gefangene Guerillakämpfer, aber auch Aktivisten des sozialen Widerstandes aus Gewerkschaften, Bauernbewegungen, Menschenrechtsorganisationen und anderen sozialen Bewegungen behandelt – als Terroristen. Während unseres Besuches in Kolumbien gab es die Möglichkeit, das Hochsicherheitsgefängnis Tramacúa in Valledupar zu besuchen und mit einigen politischen Gefangenen zu reden. Das Gefängnis wird als das »kolumbianische Guantánamo« bezeichnet. Neben sehr schweren Haftbedingungen bietet es die Möglichkeit zur nahezu vollständigen Isolation von Gefangenen. Es liegt weit im Norden des Landes in einer tropisch heißen und sehr niederschlagsreichen Region. Das Gefängnis verfügt über keine ausreichende Wasserversorgung. Die Gefangenen müssen täglich mit maximal 20 Litern Wasser zum Trinken, Waschen und für die Toilette auskommen.
Den politischen Gefangenen wird ein entsprechender Status verweigert. Sie werden nicht nur gemeinsam mit gewöhnlichen Straftätern verwahrt, sondern man tut alles, um sie untereinander zu isolieren. Wir haben Gefangene getroffen, denen seit fast vier Jahren jeglicher Kontakt mit der Außenwelt, einschließlich Familienangehörige und Anwälte, verweigert wird. Die gesundheitliche Betreuung der Gefangenen, die übrigens wie andere »Dienstleistungen« privatisiert wurde, ist mehr als dürftig, man hat sogar den Eindruck, dass sie in einigen Fällen bewusst vorenthalten wird. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Diese wenigen Beispiele sollen nur das politische Klima charakterisieren, unter denen die Friedensverhandlungen stattfinden.
Dazu gehört die gewaltige Kampagne der Medien, die alle als Terroristen ausgrenzen, die sich nicht bedingungslos den politischen und ökonomischen Interessen der kolumbianischen Oberschicht fügen. Das schafft ein Klima der Bedrohung und Einschüchterung, was sich tagtäglich in Morddrohungen niederschlägt. Und oft bleibt es nicht bei Drohungen ...
Hauptanliegen der linken Kräfte zur Zeit unseres Besuches war ein beidseitiger Waffenstillstand für die Dauer der Verhandlungen. Man sollte meinen, dass das Schweigen der Waffen während offizieller Friedensgespräche eine Selbstverständlichkeit sei – nicht so in Kolumbien! Im Dezember 2014 hatten die FARC einen einseitigen Waffenstillstand verkündet, dem sich die Regierung leider nicht angeschlossen hatte. Im Gegenteil, sie nutzte die Waffenruhe, um ihre militärische Präsenz in den umkämpften Gebieten massiv auszubauen. Und so kam, was kommen musste: Die Zusammenstöße nahmen wieder zu, es gab Tote auf beiden Seiten, und im Mai verkündete die Guerilla das Ende der einseitigen Waffenruhe.
Nachdem die beiden Garantiemächte der Friedensverhandlungen, Norwegen und Kuba, zur »sofortigen Deeskalation« aufgerufen und dabei die Vereinbarung eines »bilateralen und definitiven Waffenstillstandes und Endes der Feindseligkeiten« gefordert hatten, verkündete die Guerilla Anfang Juli erneut eine einseitige Waffenruhe. Die Regierung hingegen beharrt auf ihrer Position, dass die FARC zuerst die Waffen niederlegen und übergeben sowie sich an festgelegten Punkten sammeln müsse. Unter dem Klima des gegenseitigen Misstrauens ist eine solche Forderung, die auf eine Unterwerfung hinausläuft, eine hohe Hürde.
In diesem Zusammenhang muss an das Schicksal der Unión Patriótica (UP) erinnert werden. Bereits 1985 hatten Teile der Aufständischen die Waffen niedergelegt und sich zu einer politischen Partei gewandelt. Kurz darauf begannen die Entführungen und das Morden – bis 1988 wurden bis zu 5.000 Mitglieder der UP ermordet, darunter zwei Präsidentschaftskandidaten, zahlreiche Parlamentarier und Bürgermeister. Die 2013 wieder entstandene Unión Patriótica ist heute erneut ein politisches Sammelbecken linker Kräfte und könnte nach einem Friedensschluss erneut eine wichtige Rolle spielen. Dazu muss jedoch verhindert werden, dass sich die Geschichte wiederholt.
Kolumbien steht an einem Scheideweg. Soll eine gewaltfreie Zukunft erreicht werden, müssen beide Konfliktseiten den politischen Willen zu einer Übereinkunft zeigen. Das verlangt jedoch nicht allein ein Schweigen der Waffen, sondern die Bereitschaft, an der Lösung der sozialen Probleme zu arbeiten, die dem Konflikt zugrunde liegen.