Disput

Gut, böse, gut, böse

Begegnung mit Geschichtsklitterung

Von Ralf Becker

Die Evangelische Hochschule Dresden veranstaltete am 27. Mai die Fachtagung »Mai 1945: Perspektiven der Befreiung«. Im Eröffnungsvortrag betonte der Historiker Dr. Justus H. Ulbricht, es sei schon ein Erfolg, dass im Bundestag zur Gedenkstunde anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung erstmalig ein Historiker sprach. Auch er bezog sich, wie viele Redner bei diesem Anlass, auf die Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag der Befreiung, die eine Zäsur im Verhältnis der BRD zum »Ende des Zweiten Weltkriegs« bedeutet. In den zwei Arbeitsgruppen, die ich besuchte, lernte ich zwei ganz unterschiedliche »Historiker« als Moderatoren kennen: Dr. Thomas Widera vom Hannah-Arendt-Institut (»Besatzungsmacht und kommunaler Strukturaufbau«, massiv mit ideologisch einseitigen Wertungen) und Holger Hase (»Von der Diktatur in die Diktatur«, mit eingeengtem Begriff) von der Bundeswehrhochschule.

Die Schlussbeiträge der Tagung von Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann (Evangelische Fachhochschule in Freiburg) und Prof. Dr. Uwe Hirschfeld (Evangelische Hochschule Dresden) zeigten dann wohltuend die bleibenden Aufgaben der Geschichts»bewältigung« und worin Lehren und Erkenntnisperspektiven dieser Geschichtsbeschäftigung wirklich liegen. Schwendemann befasste sich mit pädagogisch-psychologischen Fragen der Geschichtsaneignung, die Traumata der Kriegsgenerationen, die Weitergabe an Kindesgenerationen, die Fortsetzung nazistischer Ideologie in Milieus und im Staatsapparat der BRD – all das Voraussetzungen und Wirkungsrahmen von (Geschichts-)Bildung. Ideologisch führte das vielfach zu vereinfachten Gut-böse-Denkformen sowohl im Alltag wie in der Politik. Abschließende Kernaussage: Wissen über Menschenrechte kann nur in gesellschaftlichen Strukturen verinnerlichend weitergegeben werden, die selbst menschenrechtlich sind. Da stellen sich massiv Fragen an die Nachkriegsentwicklung der BRD.

Prof. Hirschfeld lenkte den Fokus auf gesellschaftliche Diskurse. Der Prozess in der Alt-BRD hatte nur die Deutschen im Blick, die Erfahrungen und Leiden der Opfer seien bis heute nicht wirklich angeeignet worden. Er verwies darauf, dass 1945 bis in konservative Kreise hinein ein neues Gesellschaftsmodell »Sozialismus« mit verschiedenen Ausformungen angestrebt wurde (Beispiel Ahlener Programm der CDU, 1947). Eine Kernerkenntnis damals sei gewesen, dass es ohne demokratische Kontrolle der Wirtschaft keinen Neuanfang geben könne. Das sei in der Folgezeit revidiert und auch in der Weizsäcker-Rede nicht thematisiert worden. Weizsäckers Rede ist für ihn sogar eine Art Beginn von »staatstragender Einhegung beunruhigender Erinnerung«, also eine Art annehmbare Portionierung, indem wesentliche Tatsachen und Zusammenhänge eliminiert bleiben.

Er verwies auf die Schwierigkeiten und Widerstände der staatlichen Verwaltungen gegen Gedenkstättenvorhaben von Kommunen und Bürgern, auch und gerade nach der »Wende«. Hirschfeld ging auf Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zurück, die schon klarstellten, dass der Faschismus gesellschaftliche Ursachen hatte, die im Kapitalismus liegen. Und er verwies auf neue Gefahren der gesellschaftlichen Entwicklung wie Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, die Entdemokratisierung (»marktkonforme Demokratie«) und den Rechtstrend von Politik und Gesellschaft, die Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Lehren der Befreiung von 1945 gezogen seien.

Ohne auf die Details der Konferenzarbeit und Inhalte von Reden im Bundestag weiter eingehen zu können, möchte ich hier mir aufgefallene Merkmale der ideologischen Verfälschung der Nachkriegsentwicklung nennen, die meines Erachtens immer wieder auftauchen:

1. Trotz der Weizsäcker-Rede 1985 ist die Geschichtssicht aus der Nachkriegszeit der BRD bei sogenannten Wissenschaftlern und an Lehrstühlen akademischer Einrichtungen der heutigen BRD offenkundig nach wie vor dominant. Das zeigt sich bei jüngeren Absolventen, Lehrstuhlinhabern, Lehrern, Politikern.

2. Es gibt eine klare Tendenz zur Relativierung des besonderen Anteils der Sowjetarmee an der Befreiung, die Alliierten werden zunehmend auf eine Stufe gestellt, was die westlichen Alliierten unverhältnismäßig aufwertet.

3. Es gibt eine Tendenz, die Besatzung durch die Sowjetarmee wegen der Verfehlungen und Verbrechen von Sowjetsoldaten, die es unzweifelhaft gegeben hat, in einem illegitimen bis kriminogenen Licht erscheinen zu lassen. Dabei wird niemals darauf eingegangen, welche Anstrengungen die SMAD unternahm, dies zu unterbinden. Und niemals werden ähnliche Vorgänge durch westalliierte Soldaten thematisiert.

4. Oft wird für die Sowjetische Besatzungszone von den ersten Tagen an eine Art Plan zur Errichtung einer »kommunistischen Diktatur« unterstellt. Dabei werden selektiv Befehle der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland und die Befehlsstrukturen der Sowjetarmee herbeigezogen für die Begründung einer obstruktiven Implementierung des »Sowjetsystems« von Beginn an. Besonders scheinen sich hier Vertreter der »Totalitarismus-Theorie« festgebissen zu haben, wie mir an Dr. Widera deutlich wurde. Die Besonderheiten der antifaschistisch-demokratischen Verwaltungsorgane der ersten Nachkriegsjahre, die in Dokumentenlagen und Personalbesetzungen klar nachvollziehbar sind, werden genauso ignoriert wie die letztlich auf Teilung hinauslaufenden Entscheidungen der Westalliierten (Bi- und Trizone, Abbruch der Reparationen an die Sowjetunion ab 1946, Unterbindung bzw. Nicht-Umsetzung von Volksentscheiden, Währungsreform ...) als äußerer »Katalysator« der Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone.

5. Hinsichtlich eines immer wieder herbeigezogenen Vergleichs der »zwei deutschen Diktaturen« ist auffällig, dass eben überhaupt kein klarer und einheitlicher Begriff zugrunde gelegt wird bzw. höchstens in einem äußerst unzulänglichen abstrakten Sinne auf Merkmale des politischen Überbaus beschränkt. Den Diktatur-Begriff von Marx meidet man wie der Teufel das Weihwasser. Es besteht oft nicht einmal ein Wissen davon bei diesen »Akademikern«. Das würde ja auch zu neuen Beunruhigungen führen und zu ökonomischen Ursachen hinlenken.

6. Deutlich vermieden wird, Zusammenhänge zwischen sozial-ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft und politischer Machtentwicklung und Steuerung, besonders von Kapitalismus (imperialistisches Stadium, neoliberales Stadium) und Kriegsursachen zu betrachten. So auch bei Prof. H. A. Winkler in der Gedenkstunde im Bundestag. Das wird wieder besonders augenscheinlich bei der Suche nach Ursachen aktueller Tendenzen der Rechtsentwicklung in der Gesellschaft.

7. Die Geschichtsklitterung an den Lehrstühlen prägt natürlich alle damit konfrontierten Studienabsolventen. Sie ist damit starker Bestandteil öffentlicher Meinungsbildung.