Krieg ist alogisch
Zum ersten Auslandseinsatz deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus der Rede von Gerhard Zwerenz im Bundestag am 30. Juni 1995
Ich möchte als erstes feststellen: Keiner von denen, keiner von uns, die hier sprechen, wird in die Verlegenheit kommen, ausgeschickt zu werden und das militärisch zu vollziehen, was von hier angeordnet wird.
(Beifall bei der PDS)
Zweitens: Ich bin Angehöriger einer Generation der 20er Jahre – etwas weitergehend als Mitte der 20er Jahre. Wir alle sind in einen Krieg gekommen. Ich für mich mache lebenslänglich unvergessbare Schuldhaftigkeit geltend. Es ist für mich unmöglich, danach und auch jetzt, für irgendeine Kampfhandlung oder für irgendeinen Krieg eine Hand zu heben.
Ganz im Gegenteil, ich verstehe mich als Pazifist und wende mich deswegen ausgesprochen an die einzelnen, nicht nur an die Pazifisten, sondern auch an Sie. Ich habe in einem langen Leben erfahren: Wenn die Pazifisten besonders schlecht angesehen sind, wenn ihnen übel mitgespielt wird, dann kommt eine schlimme Zeit. Denn nach dem Krieg, insbesondere nach dem verlorenen Krieg, stehen die Pazifisten für einige kurze Zeit in höchster Achtung. Da fragt man sie auch. Aber dann, wenn die neue Aufrüstung kommt, werden sie nicht mehr gefragt. Das wissen wir.
Ich werde mich dennoch nicht damit abfinden. Ich werde jedem, der aufgerufen ist, in eine solche Kampfhandlung zu ziehen, sagen: Hast du dich auch ganz genau geprüft? Wenn du nämlich hineingehst, stehen viele vor dir und nennen dir unzählige und auch gute, jedenfalls nicht unbedingt schlechte Gründe, daran teilzunehmen. Wenn du aus diesem Krieg zurückkommst, wirst du merken: Du musst es allein verantworten.
Ich bin im Herbst 1944 in einem der furchtbarsten Lazarette in Minsk, in Weißrussland, gewesen. Ich habe, als Minsk von der Roten Armee erobert wurde, gesehen, wie mit den dort einliegenden verwundeten deutschen Soldaten umgegangen wurde. Es war für mich eine ungeheuerliche Erfahrung. Es war für die wenigen Überlebenden eine ungeheuerliche Erfahrung. Wir alle sind eine gewisse Zeit lang ein Opfer der Vorstellung gewesen: Die anderen sind die Grausamen, die anderen sind die Brutalen. Erst als ich in diesem Lazarett gesunden konnte und dort dann Arbeit leistete, bin ich mit den überlebenden Minskern, den Weißrussen in Berührung gekommen und habe erfahren, was die deutschen Armeen auf ihrem Vormarsch 1941 in Minsk und Umgebung angestellt haben. Seitdem bin ich äußerst skeptisch, wenn mir erzählt wird, diese oder jene Seite – meist ist es die andere, die gegnerische Seite – sei besonders grausam. Ich sage deshalb: Wenn die Waffen sprechen, ist die Vernunft verstummt …
(Beifall bei der PDS)
Krieg ist alogisch. Es kommt fast immer etwas ganz anderes heraus, als das, was man vorher mit guten Gründen erwarten mochte.
(Lebhafter Beifall bei der PDS)
Gerhard Zwerenz – Schriftsteller, Sozialist und als Parteiloser von 1994 bis 1998 für die PDS Bundestagsabgeordneter – ist 90-jährig am 13. Juli 2015 verstorben.