Nah dran
Natur und Geschichte – der Loire-Radweg
Von Andreas Günther
Die Idee entstand vor einigen Jahren auf der Fête de l’Humanité in Paris. Auf dem Pressefest der linken französischen Zeitung präsentierten die Regionen Centre und Pays de la Loire unter dem Label »La Loire à Vélo« (Die Loire auf dem Fahrrad) den seit 1998 bestehenden Radweg. Ich hatte schon viel von der Landschaft des Loire-Tals und den Märchenschlössern gehört, und das Fahrrad ist im Sommer ohnehin mein bevorzugtes Fortbewegungsmittel.
Es dauerte noch einige Jahre, bis ich im letzten Sommer eine erste Etappe anging: 145 km von Sandillon bei Orléans nach Tours. Mit allen Abstechern hieß das Ergebnis bei Facebook am 1. September: »Die Bilanz von 9 Tagen: 245 km Fahrrad gefahren, sieben Schlösser, 3 Museen und fast zwei Dutzend Kirchen besichtigt und jede Menge Gegend gesehen.« Und es war klar: Dieses Jahr geht es weiter. Aber ein bisschen war – nach dem Traumschloss von Franz I. in den Wäldern von Chambord, nach Chenonceau, dem Schloss der Königinnen in der Cher, nach zauberhaften Städten wie Blois und Amboise – auch die Frage: Kann da noch was kommen? Es konnte!
So eine Radtour ist natürlich immer auch ein logistisches Problem. Doch rund um den Loire-Radweg gibt es eine Menge Anbieter, die einem viel davon abnehmen. Die Anreise mit dem Fahrrad ist nur etwas für Leute, die zu ihrem Fahrrad ein ganz besonderes Verhältnis pflegen. Man kann überall an der Strecke sehr gute Räder mieten, die man an einer anderen Stelle wieder abgeben kann. Ebenso gibt es allerlei Zubehör, von Packtaschen über den Helm bis zum Gepäckanhänger. Man kann sich sogar sein Gepäck Etappe für Etappe voraus transportieren lassen. Das verbietet natürlich der sportliche Ehrgeiz. Zumal das Streckenprofil nicht wirklich anspruchsvoll ist. Meist rollt es eben entlang des Loire-Ufers oder durch die Flussebene, und wem der gelegentliche Ausblick von den Uferhöhen das Schwitzen nicht wert ist, für den gibt es meistens eine Alternativroute im Tal.
Niemand kann einem natürlich eine kluge Gepäckauswahl abnehmen, schon weil die Reise nach Frankreich mit dem Flugzeug erfolgt und ein Zelt dabei ist. Aber die Kapazität eines Gepäckträgers ist begrenzt. Also: Über jedes Kilogramm nachdenken. Letztes Jahr hatte ich mich für Hotels entschieden. Die sind alle auf Radwanderer eingestellt und haben auch immer einen Raum, um Fahrräder über Nacht zu verschließen. Trotzdem wollte ich es dieses Jahr mit einem Zelt probieren. Ich zelte gern, und die Zeltplätze am Weg sind gut ausgestattet und zahlreich. So ist man noch näher an der Natur. Und auch das Wetter hatte ein Einsehen mit mir.
Diesmal ging es also von Tours weiter flussabwärts. Schon am Stadtrand führt der Radweg in eine wunderbare Auenlandschaft. Bald wurde ich wieder an die Regeln der Radwanderer erinnert: Sie grüßen einander. Das kann etwas anstrengend werden, wenn in der Gegenrichtung größere Gruppen unterwegs sind. Allerdings ist es interessant zu hören, auf wie viele verschiedene Arten man »Bonjour!« sagen kann – von fröhlich geträllert über freundlich gedehnt bis militärisch knapp. Von den vielen ausländischen Akzenten ganz zu schweigen. Je mehr man sich von den Städten und bekannteren Sehenswürdigkeiten entfernt, desto mehr haben Weg, Wiesen, Auenwälder und der Blick auf den Fluss für sich.
Eine weitere Regel, besonders in flussnahen Bereichen: Brille tragen und durch die Nase atmen. Insekten in den Atemwegen sind wirklich unangenehm. Entsprechend sollte man den Mückenschutz für die Abende auf dem Zeltplatz am Flussufer nicht vergessen.
Eine Reise an der Loire ist unweigerlich eine Reise in die französische Geschichte. Das Land gehörte zur Kerndomäne der französischen Könige, hier spielten viele Ereignisse des Hundertjährigen Krieges, hier befreite Jeanne d’Arc Orléans, Franz I. eröffnete die Ära der Renaissanceschlösser und lud Leonardo da Vinci nach Amboise ein. Das Land an der Loire und ihren Nebenflüssen Cher, Indre, Vienne und Maine ist voll von Zeugnissen von Geschichte und Kultur und hat zugleich viel seiner natürlichen Schönheit und seines Reichtums bewahrt.
So ging es zu den im vergangenen Jahrhundert wiedererstanden Renaissancegärten bei Schloss Villandry und in die Abtei von Fontevraud, einst das mächtigste Kloster Frankreichs, in dem Äbtissinnen sowohl über die Nonnen als auch über die Mönche in den vier Klöstern regierten. Eine seltene Stellung für Frauen zu dieser Zeit.
Überhaupt bin ich auf dieser Reise immer wieder auf die Spuren starker Frauen der Geschichte gestoßen: Jeanne d’Arc, Claude de France, Anne de Bretagne, Katharina de Medici, Eleonore von Aquitanien. Letztere liegt in der Abtei von Fontevraud begraben, zusammen mit ihrem Mann, Heinrich II. von England, und ihrem Sohn Richard Löwenherz. Eine Erinnerung an eine Zeit, als die Könige von England aus dem Hause Plantagenet auch Herren über große Teile von Frankreich waren. Damals spielt die Begegnung zwischen Eleonore, ihrem Mann und ihren Söhnen Weihnachten 1183 in Burg von Chinon, die in dem Film »Der Löwe im Winter« mit Peter O’Tool und Katherine Hepburn dargestellt wird. Die Burg Chinon thront noch heute, etwas mehr als eine Fahrradstunde entlang der Ufer von Loire und Vienne entfernt, eindrucksvoll über dem gleichnamigen Ort. Dort wiederum traf Jeanne d’Arc 1429 König Karl VII., den sie zur Krönung nach Reims führen und so die Wende im Hundertjährigen Krieg und das Ende englischer Herrschaft auf dem französischen Festland einleiten sollte.
Aber wie – mit Brecht – eben nicht die Könige das siebentorige Theben bauten, so waren es auch hier die Bauern, Fischer und Handwerker, auf deren Arbeit der Reichtum Frankreichs aufbaute. Die Fischertradition und die traditionellen Transportschiffe für den oft flachen Fluss findet man noch heute allenthalben, wenngleich meist als Touristenattraktion. In den Uferhöhen finden sich die Spuren des Tuffsteinabbaus, später für die Champignonzucht oder bis heute als Höhlenwohnungen genutzt. Bei Angers wurden die Brüche des berühmten Schiefers in ein ausgedehntes Naherholungsgebiet umgestaltet. Der Schiefer von Angers bestimmt, zusammen mit dem Tuffstein, die charakteristische Schwarz-Weiß-Optik vieler Häuser des Anjou.
Auch die Gegenwart begegnet mir auf der Fahrt entlang der Loire. Der wasserreiche Fluss ist Standort mehrerer wichtiger Atomkraftwerke. Die Debatte um die Atomenergie wird in Frankreich längst nicht mit der gleichen Betonung der Umwelt- und Langzeitprobleme geführt wie in Deutschland. Hier geht es eher um Fragen der Arbeitsplätze, der Energiesicherheit und der CO2-Vermeidung. Und so sind Stimmen für einen Atomausstieg deutlich in der Minderheit.
Die Loire, ihre Landschaft und ihre Menschen sind jedenfalls eine Reise wert. Und das Fahrrad ist ein Verkehrsmittel, mit dem man an allem näher dran ist als mit Auto oder Zug. Vielleicht geht es ja in den nächsten Jahren noch von Orléans flussaufwärts bis zum Beginn des Wegs bei Nevers. Oder von Angers flussabwärts zum Atlantik. Von 800 Radwegkilometern ist jedenfalls noch einiges übrig.