An der Seite der Betroffenen
Was lässt sich aus den Protesten gegen Kürzungspaket, Rösler-Reform und Rente ab 67 lernen? Versuch einer ersten Bilanzierung
Von Christoph Kröpl und Pascal Meiser
Am 26. November hat der Bundestag mit den Stimmen von CDU und FDP das größte Kürzungspaket in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Ohne mit der Wimper zu zucken, lassen Merkel, Westerwelle & Co. Erwerbslose, Geringverdiener und Familien für die Kosten der Finanzmarktkrise zahlen. Zuvor hatte Schwarz-Gelb schon Röslers Kopfpauschale im Gesundheitssystem durchgewunken und sich für die Beibehaltung der Rente erst ab 67 ausgesprochen. Offenkundig haben die Herbstproteste nicht ausgereicht, um Schwarz-Gelb von der Umsetzung ihrer Vorhaben abzuhalten. Und das, obwohl in den Wochen zuvor im gesamten Land rund 200.000 Menschen gegen die unsozialen Pläne der Regierung auf die Straße gegangen waren und sich darüber hinaus eine vielfache Anzahl von Menschen an Betriebs- und Personalversammlungen beteiligt haben, in denen die Gewerkschaften über die Pläne der Bundesregierung und Alternativen dazu aufklärten.
Insgesamt war der Herbst von einer Protestvielfalt und -dynamik geprägt, wie wir sie in diesem Lande schon lange nicht mehr gesehen haben. So wurde zumindest die Delegitimierung der schwarz-gelben Bundesregierung weiter vorangetrieben. Denn wären am kommenden Sonntag Bundestagswahlen, hätte Schwarz-Gelb keine Mehrheit mehr, die Mövenpick-Partei FDP müsste gar um ihren Einzug in den Bundestag bangen.
DIE LINKE hat in diesen Protesten eine maßgebliche Rolle gespielt. Als einzige im Bundestag vertretene Partei hat sie verlässlich an der Seite der Betroffenen gestanden – im Bundestag wie auf der Straße. Während nicht nur die Grünen, sondern auch die SPD ihre Mobilisierung auf Bundesebene überraschenderweise weitestgehend auf das Thema Anti-AKW konzentrierten, waren bundesweit Tausende LINKE aktiv mit bei den großen und kleinen Demonstrationen gegen Kürzungspolitik und Sozialabbau dabei. Genossinnen und Genossen aus mehr als 150 Kreisverbänden haben sich an der Aktion »Sparpaket zurück zum Absender«, initiiert von Klaus Jann (Rote Reporter Nordrhein-Westfalen), beteiligt und ihre Fotos eingesandt. Und vielerorts haben Genossinnen und Genossen unter dem Motto »Sparschweinerei« auf die desaströsen Auswirkungen der Kürzungspolitik auf die Kommunen aufmerksam gemacht.
In einigen Bundesländern wie Sachsen oder Baden-Württemberg ist DIE LINKE zudem de facto bereits Motor breiter Bündnisse gegen die herrschende Kürzungspolitik auf Landes- und Bundesebene, und auch vor Ort beteiligt sich DIE LINKE an Bündnissen mit Gewerkschaften, Vereinen und lokalen Initiativen. Im bundesweiten linken Bündnis »Wir zahlen nicht für eure Krise!« ist DIE LINKE aufgrund ihres kontinuierlichen Engagements zu einem der Motoren für gemeinsame Aktionen geworden, wie der gemeinsam mit Attac durchgeführte bundesweite »Bankenaktionstag« am 29. September oder die »Bundestagsbelagerung« am 26. November gezeigt haben.
Unterschiedliche Beteiligung
Ein ehrlicher Blick auf unsere eigenen Aktivitäten als Partei zeigt aber auch, dass die Beteiligung an den Protesten gegen Kürzungspolitik und Sozialabbau sehr unterschiedlich ausgeprägt war und ist. Dies hat erfahrungsgemäß sehr verschiedene Gründe, die von einer überbordenden Zahl an organisatorischen und politischen Aufgaben bis hin zum bloßen Mangel an Informationen oder zum Wunsch nach mehr praktischer Unterstützung seitens der Bundesebene reichen kann.
Letztlich waren wir jedoch auch mit einer Reihe von grundsätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Zuvorderst ist hier der Strategie- und Tempowechsel der Bundesregierung zu nennen: »Kanzlerin und Kabinett beweisen (…), dass sie (…) imstande sind, Öffentlichkeit und Demokratie durch beinahe im Stundentakt einprasselnde Gesetzesvorlagen zu fordern – wenn nicht zu überfordern«, so beschrieb die Wochenzeitung »Freitag« die politische Lage Anfang Oktober treffend. Wer erinnerte sich zu diesem Zeitpunkt noch daran, dass nur wenige Monate zuvor kaum ein politischer Leitartikler der Merkel-Regierung Handlungsfähigkeit attestieren wollte? Dabei zeichnete sich der von der Bundeskanzlerin ausgerufene »Herbst der Entscheidungen« vor allem durch eines aus: Er ließ einem weder Atem noch Zeit. Der Katalog der schwarz-gelben Grausamkeiten, die im Eilverfahren durch das Parlament gepeitscht wurden, war umfassend – genau wie es DIE LINKE nach der Bundestagswahl immer wieder prophezeit hatte. Doch als es dann so richtig losging, waren wir wohl selbst hier und da überrascht, wie brachial Merkel, Westerwelle & Co. die Spaltung des Landes vorantreiben.
Die erhöhte Schlagzahl der Bundesregierung führte zu einer starken Überlappung zentraler Themen in der öffentlichen Wahrnehmung. Haushaltsberatungen und Kürzungspaket, Röslers Gesundheitsreform, AKW-Laufzeitverlängerung, Hartz-IV-Regelsatz-Debatte, Stuttgart 21, Einführung der Rente ab 67 – im Wechsel und ohne klare Dramaturgie dominierten diese Themen die politische und mediale Agenda. Einzig das Thema AKW-Laufzeitverlängerung und, nach dem brutalen Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten, das Thema Stuttgart 21 blieben mit einer gewissen Konstanz im Fokus der Aufmerksamkeit. Eine Konzentration der Herbstproteste auf klar formulierbare Ziele und zugespitzte Forderungen wurde dadurch objektiv erschwert.
So gelang es nicht, die verschiedenen Aspekte der Kürzungspolitik in eine übergreifende »Erzählung« einzubetten, die eine weitergehende Mobilisierungsdynamik hätte tragen können. Das lag letztlich auch an einer unzureichenden Koordination sowohl innerhalb des DGB als auch zwischen den Gewerkschaften und anderen Akteuren. Das Ergebnis war eine Protestdramaturgie, die auf einen Höhepunkt, zum Beispiel in Form einer gemeinsamen Großdemonstration in Berlin, verzichtete und der unschwer anzusehen war, dass sie das Ergebnis eines kaum kaschierten Formelkompromisses innerhalb des DGB darstellte. Dieses grundsätzliche Problem konnte auch DIE LINKE nicht lösen.
Kampagnen- und Aktionsfähigkeit kritisch reflektieren
Zu einem vollständigen Bild gehört schließlich in diesem Zusammenhang auch die selektive mediale Widerspiegelung der Proteste in den Medien. Obwohl in absoluten Zahlen alleine Anfang November auf den regionalen Großdemonstrationen der Gewerkschaften mehr als 150.000 Menschen in Stuttgart, Nürnberg, Hannover, Dresden, Erfurt oder Dortmund auf die Straße gingen und diese durch vielfältige kleinere Aktionen im Vorfeld begleitet wurden, spiegelte sich dies nur begrenzt in der medialen Berichterstattung. Es dominierten die Proteste gegen die Atom-Politik der Bundesregierung und gegen Stuttgart 21 und die Erzählung eines neuen sogenannten bürgerlichen Protestes, der für soziale Themen, Gewerkschaften und ihre Aktionsformen wenig Aufmerksamkeit übrig hatte. Das sagt recht viel über Interessen und Wahrnehmungsmuster in den deutschen Redaktionsstuben aus. Der obige Befund ist aber auch Ausdruck der erfolgreichen Vermarktung der zum Teil sehr kreativen, zum Teil auch konfrontativen Protestformen der Anti-Atom-Bewegung, die den Aufmerksamkeitskriterien der Medien stark entgegenkommen. Von diesen erfolgreichen Selbstvermarktungsstrategien der Anti-AKW-Proteste weiter zu lernen, wird für den Erfolg künftiger Protestbewegungen gegen Sozialabbau womöglich von entscheidender Bedeutung sein.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung ist weiter im Amt, und von ihr ist auch künftig wenig Gutes zu erwarten. Die nächsten sozialen Auseinandersetzungen stehen bereits vor der Tür. Hier sei nur die Frage genannt, ob sich Schwarz-Gelb trotz Einführung der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit zum 1. Mai 2011 weiterhin der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns versperrt. Und natürlich ist nicht auszuschließen, dass auch die Kürzungen bei Erwerbslosen und die Einführung von Kopfpauschalen im Gesundheitssystem noch einmal eine ganze andere öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, wenn die Bürgerinnen und Bürger die Auswirkungen dieser Entscheidungen erstmalig in ihrem eigenen Geldbeutel spüren.
DIE LINKE muss solche Szenarien schon jetzt vorbereiten und die Stärken und Schwächen der eigenen Kampagnen- und Aktionsfähigkeit kritisch reflektieren. Dazu müssen wir die vielfältigen praktischen Erfahrungen der letzten Wochen jetzt gemeinsam auswerten. Einen Beitrag dazu soll eine Befragung aller Kreis- und Ortsverbände bzw. Basisorganisationen liefern, die noch vor dem Jahreswechsel starten soll. Dafür bitten wir alle Genossinnen und Genossen schon jetzt um tatkräftige Unterstützung.
Christoph Kröpl ist Mitarbeiter, Pascal Meiser Leiter des Bereiches Kampagnen und Parteientwicklung in der Bundesgeschäftsstelle der LINKEN.