Stellenweise Glatteis
Feuilleton
Von Jens Jansen
Jeder weiß: Nässe plus Kälte = Glatteis. Aber sobald der Winter naht, verdoppeln und verdreifachen sich die Verkehrsunfälle, weil manche das Bein nicht vom Gas kriegen. In anderen Bereichen des öffentlichen Lebens ist das ähnlich, zum Beispiel in der Diplomatie. Jeder Politiker weiß: Vertrauen plus Verrat = Skandal. Aber die »Ausrutscher« auf dem diplomatischen Parkett sind endlos. US-Außenministerin Hillary Clinton macht Überstunden am Telefon, um den vergrämten Amtsbrüdern zu sagen: »Wir haben ein Loch im Panzerschrank! Da sind etwa 250.000 Berichte unserer Botschafter ins Internet geraten. Viele waren ›vertraulich‹ und sind brisant. Wir bitten dies zu entschuldigen und versichern unsere Verbundenheit!« Oder so …
Aber was ist dadurch ans Licht gekommen? Nichts, was man nicht wusste oder ahnte: Die Berliner Botschaft der USA nennt Frau Merkel »Miss Teflon«, weil alle Probleme bei der Kanzlerin abtropfen wie das Wasser von der Gans oder wie das Fett von der Teflon-Pfanne. Na und? So wird sie zum Fels in der Brandung. Wenn sie nur nicht so taub für die sozialen Probleme beiderseits der Elbe wäre! Von Westerwelle heißt es, er sei arrogant, aggressiv und kein Genscher. Weiß doch jeder! Schäuble wird als »zorniger alter Mann« beschrieben. Stimmt doch! Putin wird »Alpha-Rüde« genannt. Respekt! Aus dem Nahen Osten wird berichtet, wer dem Iran an die Gurgel will. Alles realistisch, nur nicht diplomatisch.
Es gehört zum Tagewerk der Botschafter, dass sie Land und Leute einschätzen. Dazu nutzen sie jeden Empfang, jede Sauna, jedes Kantinengespräch. Und in der Kantine des Bundestages spricht man genauso ungeniert über die Minister in Berlin wie in Washington. Der Skandal ist die Veröffentlichung mit diesem Absender im Internet. Aber das ist auch kein Skandal, denn so viel muss jeder Bürger, Botschafter oder Banker wissen: Was ich dem Handy oder Computer anvertraue, das kann ich auch auf dem Marktplatz ausrufen! Der Markt hat hier eine Doppelrolle, denn Informationen bringen Geld, je geheimer umso mehr. Das ist das Glatteis in einer Welt, wo alles käuflich ist.
Ähnliches Glatteis bietet die Terrorismus-Psychose. Da gingen Pappkartons mit Silvesterböllern an verschiedene Regierungschefs und auch ans Kanzleramt. Die Hauswache hat das Zeug aussortiert. Aber die Krawallmedien riefen gleich »Königsmord!«. Dann kam in Afrika ein leerer Münzkoffer in die Hände der Flughafenpolizei. Das klappt, sobald man die Kisten der Luftfracht genauso streng prüft wie die Handtaschen der Passagiere. Schließlich erfuhr die Nation, dass sechs Terroristen im Anmarsch sind, von denen zwei schon eingetroffen seien, »um Ende November im Reichstag ein Blutbad anzurichten«. Wer so etwas so dilettantisch ankündigt, kann kein Profi sein. Der Innenminister riet deshalb, unsere Lebensgewohnheiten nicht aufzugeben.
Trotzdem bleibt Glatteisgefahr, denn auch gutwillige Moslems möchten ihre »Lebensgewohnheiten« nicht aufgeben. Sie wollen in einer Moschee zu ihrem Gott beten, auch wenn sie keine Baugenehmigung erhalten. Sie brauchen statt Glocken das Minarett, auch wenn der Stadtbaurat es zur Litfaßsäule verkleinert. Sie möchten ihre Töchter zur Keuschheit erziehen, auch wenn die Sportlehrer das nicht verstehen. Alles veränderbar, nur nicht mit Druck oder Hass oder Sarrazynismus.
Eine andere Glatteisfläche zeigte sich auf dem Berliner Landesparteitag der LINKEN. Seit 2002 regiert ein rot-roter Senat die Bundeshauptstadt. Wer hätte das gedacht? DIE LINKE hat drei Stühle im Senat, zwei Bezirksbürgermeisterinnen und elf Stadträte und Stadträtinnen. DIE LINKE regiert mit, um zu verändern. Ohne sie wäre die Stadt »kälter, ungerechter und weniger demokratisch«, sagt der wiedergewählte Landesvorsitzende Klaus Lederer. Da zählen der öffentliche Beschäftigungssektor, die besonnene Wirtschaftspolitik, die nicht allein auf Dienstleistung setzt, der Verzicht auf Studiengebühren, die Beispiele direkter Demokratie, die Verteidigung des kommunalen Eigentums und manches mehr. Doch im Wahlkampf stecken sich nun auch andere, die vom Sitzenbleiber zum Abschreiber wurden, diese Federn an den Hut. Die personifizierte Schlacht zwischen Landeschef Wowereit (SPD) und Renate Künast als grüne Herausforderin droht nun, DIE LINKE zwischen die Mühlsteine zu bringen. Noch sagt DIE LINKE: »Sachlich währt am längsten«. Wie aber, wenn sie zum »Blutspender« für die SPD wird? Wenn die tonangebenden CDU-Medien sie totschweigen? »Wer nicht wirbt, der stirbt!«, heißt es im Konkurrenzkampf. Also den Mund spitzen und pfeifen! Dann schmilzt auch das politische Glatteis.