2. Tagung der 16. Bundeskonferenz

Bericht des Bundessprecherrates

Berichterstatterin: Ellen Brombacher

Liebe Genossinnen und Genossen, am 1. Oktober starb Eric Hobsbawm. Geboren im Jahr der Oktoberrevolution hat er den größten Teil eines Jahrhunderts durchlebt, welches er als »Das Zeitalter der Extreme« charakterisierte. In seinem gleichnamigen Werk zur »Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts«, das 1994 in London erschien, stellte Hobsbawm fest: »Es gibt nicht nur äußere, sondern gleichsam innere Anzeichen dafür, dass wir am Punkt einer historischen Krise angelangt sind. Die Kräfte, die die technisch-wissenschaftliche Wirtschaft freigesetzt hat, sind inzwischen stark genug, um die Umwelt, also die materielle Grundlage allen menschlichen Lebens, zerstören zu können. Und die Strukturen der menschlichen Gesellschaft selbst, eingeschlossen sogar einige soziale Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaft, sind im Begriff, durch die Erosion dessen, was wir von der menschlichen Vergangenheit geerbt haben, zerstört zu werden. Unsere Welt riskiert sowohl eine Explosion als auch eine Implosion. Sie muss sich ändern. … Wenn die Menschheit eine erkennbare Zukunft haben soll, dann kann sie nicht darin bestehen, dass wir die Vergangenheit oder Gegenwart lediglich fortschreiben. Wenn wir versuchen, das dritte Jahrtausend auf dieser Grundlage aufzubauen, werden wir scheitern. Und der Preis für dieses Scheitern, die Alternative zu einer umgewandelten Gesellschaft, ist Finsternis.«

Beinahe 20 Jahre sind vergangen, seit Hobsbawm dies schrieb. Die historische Krise entfaltet sich und es ist völlig offen, welches Ende sie nehmen wird. Die Gefahren für die Existenz der Zivilisation sind enorm. Brandherde, die sich über Nacht zu einem atomaren Weltkrieg ausweiten können, schwelen besonders im Nahen Osten. Dies erlebten wir gerade jetzt. Moshe Zuckermann äußerte hierzu in der jW vom 19. November: »Wer die Ursache für die je ausgebrochene Gewalt im Terror der Hamas sieht, wird sich fragen lassen müssen, wie es zu dieser Terroraktivität gekommen ist; ja, wie es überhaupt dazu kam, dass die Hamas die Herrschaft im Gazastreifen erlangte, vor allem aber, welchen gravierenden Anteil die israelische Politik am Zustandekommen der gegenwärtigen Konstellation im Gazastreifen hatte.« Die KPF teilt ausdrücklich die Position von Wolfgang Gehrcke: »Die israelische Regierungspolitik ist nicht auf einen gerechten Frieden mit Palästina gerichtet. Besatzungswillkür ist keine sinnvolle Alternative zu Frieden im Nahen Osten. DIE LINKE fordert von der Bundesregierung, sich bei der israelischen Regierung eindeutig gegen die Verschärfung der militärischen Aktionen zu verwenden.« Gehrcke fordert weiter, die BRD möge in der UN-Vollversammlung einen palästinensischen Antrag auf Verleihung des erweiterten Beobachterstatus unterstützen und die vollständige Aufwertung der palästinensischen Vertretung in Deutschland auf einen normalen diplomatischen Status herbeiführen. Diese Position vertritt auch Gregor Gysi im ND-Interview vom 20. November. Wir stehen solidarisch auf der Seite der besonders geschundenen Menschen im Gazastreifen und der israelischen Friedensbewegung. Mit Sorge erfüllt uns auch der bevorstehende »Patriot«-Einsatz der Bundeswehr in der Türkei. Zu Recht warnt nicht nur unsere Partei vor einem militärischen Abenteuer. Die BRD kann so förmlich in den nächsten Krieg hineingezogen werden.

Liebe Genossinnen und Genossen, nicht zuletzt Entwicklungen im südostasiatischen Raum, so die sich gegen China richtende, geplante Dislozierung von 60 Prozent der US-amerikanischen Marine im Stillen Ozean, bergen unvorstellbare Gefahren; ebenso wie der sich angeblich gegen Iran, in Wirklichkeit aber gegen Russland richtende NATO-Raketenschirm. Weite Teile Afrikas verbluten in Bürgerkriegen, so in Mali und im Kongo, und die disziplinierten, mutigen Menschen des arabischen Frühlings werden - wie jetzt in Ägypten - um die Früchte ihres Kampfes betrogen. Ihnen gehört unsere Solidarität ebenso, wie den Fortschrittsbewegungen in Lateinamerika, teils in staatlicher Gestalt. Wir sind froh über den Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela und wünschen ihm vor allem Gesundheit im Ringen um optimale staatliche Rahmenbedingungen für die bolivarische Volksbewegung. Auf der Massenkundgebung anlässlich seines Wahlsieges am 7. Oktober rief Chávez zehntausenden Menschen zu, Venezuela werde niemals in den Neoliberalismus zurückgeworfen werden, sondern weiter den bolivarischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts aufbauen. Natürlich sind unsere Gedanken und Herzen bei unseren Freunden im sozialistischen Kuba. Wir stehen solidarisch an der Seite aller, die gegen Krieg und Ausbeutung kämpfen. Und wir freuen uns gemeinsam mit unseren tschechischen Genossinnen und Genossen über die Erfolge der KP Böhmens und Mährens bei den Regionalwahlen im vergangenen Oktober. Doch wir sind Realisten. Wir wissen: Die Kräfte der Finsternis sind gefährlich und scheinen unbezwingbar stark. Der Gegner des gesellschaftlichen Fortschritts ist nicht irgendeine spezielle Spielart des Kapitalismus. Es ist das Profitsystem als solches. Deshalb sind wir Antikapitalisten und handeln in der Überzeugung, dass wir gegen die Finsternis kämpfen müssen, auch ohne sagen zu können, dass der Sieg des Lichtes eine Gesetzmäßigkeit ist. Bei allem, was wir tun steht eine Aufgabe im Zentrum unserer Bemühungen: Mit dafür Sorge zu tragen, dass DIE LINKE die Friedenspartei in diesem Land bleibt und dass die friedenspolitischen Prinzipien keinerlei taktischen Erwägungen geopfert werden. Die Bundeswehr hat im Ausland nichts zu suchen; nicht in Afghanistan, nicht in der Türkei oder Mali noch sonst wo. Wir wenden uns gegen jegliche, den Iran und Syrien betreffende Kriegsvorbereitungen und -handlungen. Es wird sich herausstellen, ob der wiedergewählte US-amerikanische Präsident Barack Obama in dieser Hinsicht eine gewisse Vernunft wird walten lassen.

Liebe Genossinnen und Genossen, wir wissen um die Begrenztheit unserer Möglichkeiten. Aber die, die wir haben, werden wir nutzen: ob in der Friedensfrage, ob in puncto Antifaschismus oder hinsichtlich der sozialen Verantwortung, die der LINKEN obliegt. Es tut not. Am 25. September war der Geschäftsführer des Bundesverbandes der deutschen Banken Michael Kemmer zu Gast im ARD-Morgenmagazin. Befragt, ob die Bankenkrise jetzt ein Ende habe, antwortete er, diese habe es in den Jahren 2007, 2008 und 2009 gegeben. Nun gäbe es eine Staatsschuldenkrise, die die Banken in Mitleidenschaft zöge. Der Schlüssel für Lösungen läge in der Politik, die ihre Hausaufgaben machen müsse: Die EU-Staaten in der Peripherie müssten ihre Haushalte sanieren, sie müssten privatisieren und die Arbeitsmärkte liberalisieren. Dann funktioniere es.

Rainer Rupp hat den Zusammenhang zwischen Bankenkrise und Staatsschuldenkrise so formuliert: »Der (falsche) Entschluss der westlichen Regierungen, private Zockerbanken mit Staatshilfen zu retten, und die Kosten anschließend der Masse der Arbeiter und kleinen Angestellten in Form von höheren Steuern, geringeren Löhnen und Renten, steigenden Abgaben und radikalem Sozialabbau aufzubürden, hat aus der Bankenkrise eine Staatsschuldenkrise gemacht. Es ist vor allem eine sich ausweitende gesellschaftliche Krise.«(1)

Kehren wir noch einmal zu Kemmer zurück: Bei ihm haben Banken- und Staatsschuldenkrise ursächlich anscheinend nichts miteinander zu tun und so empfiehlt er schlicht, die Staatschuldenkrise mit jenen Mitteln zu bewältigen, von denen Rupp sagt, gerade sie hätten aus der Banken- eine Staatsschuldenkrise gemacht. Ist Kemmer naiv? Wohl kaum. Nur soll unter allen Umständen verschleiert werden, worum es eigentlich geht. Die Voraussetzungen für solcherart Manipulation sind optimal. Denn die wenigsten Menschen, das betrifft wohl auch die meisten von uns, verfügen über die notwendigen Kenntnisse, um zu begreifen, was sich im Rahmen der sogenannten Finanzmarktkrise konkret alles abspielt. Dennoch ist politische Orientierungslosigkeit keine zwangsläufige Folge der Undurchsichtigkeit von globalen Finanztransaktionen. Der Mangel an entsprechender spezifischer Kompetenz ist nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit Inkompetenz bei der Einschätzung der ablaufenden gesellschaftlichen Prozesse. Das Wesen dieser Prozesse besteht darin, den Kapitalismus weltweit von allen sozialen Fesseln zu befreien. Die letztlich durch die - gesellschaftlich immer weniger beherrschte - Funktionsweise des Profitmechanismus hervorgerufene Staatsschuldenkrise wird benutzt, auch in Europa einen sozialen Kahlschlag bisher unbekannten Ausmaßes durchzusetzen. Die Umverteilung des Reichtums von unten nach oben verläuft zunehmend schamlos durch Privatisierungen, durch Einsparungen, die die oberen Zehntausend nicht oder nur unbeträchtlich betreffen und durch die permanente Steigerung der Ausbeutung. Nichts anderes ist die sogenannte Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zugunsten des sich stetig ausdehnenden Niedriglohnsektors mit Hilfe der bekannten Instrumente. Die Strukturreformen zielen darauf ab, die Arbeitskosten - Marx sprach vom Preis der Ware Arbeitskraft - zu drücken.

Kemmer hat die einzelnen Faktoren durchaus benannt. Weggelassen hat er die komplexen ökonomischen und politischen Zusammenhänge. Linke haben zuvörderst zwei Aufgaben: Genau diese Zusammenhänge bewusst zu machen und gegen die der Profitmaximierung dienende Politik Widerstand zu leisten. DIE LINKE darf im bevorstehenden Wahlkampf nicht müde werden, eben dies zu tun. Nur so hat sie auch die Chance, als unverzichtbare Oppositionspartei wahrgenommen zu werden. Das schließt nicht zuletzt ein, im Geiste des Internationalismus zu agieren. Es war großartig, dass Bernd Riexinger mit den Menschen in Athen auf der Straße war, just zu dem Zeitpunkt, als Kanzlerin Merkel Griechenland heimsuchte, angeblich um zu helfen. »Linke-Chef marschiert mit Anti-Merkel-Mob« titelte die B.Z. am 10. Oktober. Ähnlich reagierten viele andere Mainstream-Blätter. Dieser Hass zeugt nur von einem: Solche politischen Schritte tun den Herrschenden weh.

»Die Hilfen«, so formulierte es Alexis Tsipras im September auf einer Kundgebung in Hamburg, »kommen nicht beim griechischen Volk, sondern nur bei den Banken an.« Die Trennung in Europa verlaufe nicht zwischen den nördlichen und den südlichen EU-Staaten, sondern zwischen den Völkern und den Kapitalisten. Diese von Tsipras ausgesprochenen elementaren Wahrheiten können besonders auch hier in der BRD im bevorstehenden Wahlkampf nicht deutlich genug gesagt werden. Der hat begonnen.

Liebe Genossinnen und Genossen, vielkonsumierte und daher einflussreiche Medien suggerieren bereits heute die Notwendigkeit einer großen Koalition. Auch Steinbrück ist ein Medienprodukt. Als er seinerzeit - als damaliger Finanzminister - im Zusammenhang mit der Einführung von Hartz IV, gefragt wurde, ob noch Hartz V bis VIII folgen müsse, antwortete er: »Das ist eine Frage der Dosis, die die Menschen vertragen können.« Was für ein Zynismus. Dass Steinbrück vorgibt, eine rot-grüne Koalition anzusteuern, hat wenig zu sagen. Natürlich würde er gern Kanzler. Mit einer rot-grünen Mehrheit ist allerdings - vor allem auf Grund der Beliebtheit Merkels - nicht unbedingt zu rechnen. Das wissen auch die Journalisten - viele von ihnen willige Vollstrecker des Kapitals. Am 22. September schrieb der Politik-Berater Michael H. Spreng im Berliner Kurier, die Mehrheit der Deutschen denke vernünftig. 54 Prozent wünschten sich nach der Bundestagswahl 2013 eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Und: Spreng stellte einen Bezug zum Armutsbericht der Bundesregierung her, aus dem hervorgeht, dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Die oberen zehn Prozent der deutschen Bevölkerung besäßen 53 Prozent des Vermögens, die unteren 50 nur ein Prozent. Beide Nachrichten, so Spreng, hätten »auf den ersten Blick erst einmal nichts miteinander zu tun. Auf den zweiten aber schon. Denn eine große Koalition wäre die Chance, es in Deutschland wieder etwas gerechter zugehen zu lassen - mit Augenmaß. Ohne Klassenkampf-Parolen. Ohne Spaltung der Gesellschaft.« Und - im selben Berliner Kurier, in direkter Nachbarschaft zum Spreng-Artikel - wurde Steinbrück als »Mann des Tages« vorgestellt und faktisch als Kanzlerkandidat empfohlen. Genau dies taten zuvor schon BILD, Cicero und noch weit davor Helmut Schmidt.

In Anbetracht der inzwischen erfolgten Nominierung des zweitgrößten Bundestags-Nebenverdieners Steinbrück ist man geneigt, zu sagen: Es kam, wie es kommen musste. Über eines jedenfalls muss nicht spekuliert werden: Wenn maßgebliche Kreise des deutschen Kapitals die teils infantile Politikgestaltung der FDP nicht mehr wünschen, vor allem aber - wenn diese Kreise eine Regierungskonstellation anstreben, von der sie meinen, sie vermöge gegenwärtig noch am ehesten, Gewerkschaften und soziale Bewegungen einzubinden, dann werden sie die ihnen gehörenden Medien - und welche gehören ihnen schon nicht - auf den Kampf um eine CDU-SPD-Koalition einschwören. Dies zeichnet sich ab. Ob diese Tendenz sich verstärkt oder aus Gründen, die es in der Politik immer geben kann, sich wieder abschwächt, werden wir erleben. Auch Schwarz-Grün ist nicht auszuschließen.

Liebe Genossinnen und Genossen, wer auch immer ab spätestens Herbst 2013 die Regierungsverantwortung wahrnehmen wird - wird dies primär im Interesse des Kapitals tun und damit die sozialen Widersprüche vertiefen. Gerade die sich permanent zuspitzenden sozialen Widersprüche verlangen sowohl außerparlamentarischen als auch parlamentarischen Widerstand. Dass träfe erfahrungsgemäß für eine Konstellation von Rot-Grün ebenfalls zu, wobei die eher unwahrscheinlich ist. Denn noch ist nicht vergessen, wer dem sozialen Kahlschlag im neuen Jahrhundert die entscheidenden Impulse gab und ihn praktisch einleitete. Das ND vom 28./29. Juni 2012 informierte über die aktuellen Zahlen, veröffentlicht vom Statistischen Bundesamt, die die mittelfristigen Auswirkungen der gezielten Niedriglohnpolitik der beiden Regierungen von SPD und Grünen illustrieren. SPD und Grüne waren es, die mittels solcher Instrumente wie Minijobs, Midijobs und Ich-AGen seinerzeit planvoll den Niedriglohnsektor entfesselten. Den Angaben des Statistischen Bundesamtes zufolge verdienten im Jahre 2010 etwa elf Prozent aller Beschäftigten in Deutschland weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Im Osten waren es gar 22 Prozent, deren Einkommen derzeit unter der nunmehr von der SPD geforderten Mindestlohnschranke liegen. Diesen Zahlen zufolge war im Bundesdurchschnitt jeder dritte Niedriglöhner vollzeitbeschäftigt. Im Osten ist es bereits mehr als die Hälfte der Betroffenen. Die größte Gruppe der Schlechtverdiener sind weiterhin Frauen, die in Teilzeit oder Minijobs arbeiten. Wie krass sich die Lohnschere zwischen Ost und West weiterhin öffnet, lässt sich mittels der Zahlen des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen bereits daran ermessen, dass die »Niedriglohnschwelle« im Osten derzeit mit 6,81 Euro angesetzt wird und im Westen bei 9,61 Euro. Nach IAQ-Statistik liegen die durchschnittlichen Arbeitsentgelte im als Niedriglohnsektor definierten Bereich im Westen bei 6,68 Euro und im Osten bei 6,52 Euro. Die beträchtliche Differenz zwischen diesen Durchschnittswerten und der Niedriglohngrenze bei über neun Euro erklärt sich durch einen erheblichen »Bodensatz« extrem schlecht bezahlter Jobs. 4,1 Millionen Beschäftigte, also in etwa zwölf Prozent, verdienen inzwischen weniger als sieben Euro brutto, 1,4 Millionen sogar weniger als fünf Euro. Und die Armen treffen auch noch die über eine Million verhängten Sanktionen gegen ALG-II-Empfänger innerhalb eines Jahres. Nimmt man die wachsende Altersarmut hinzu - die Zahl der Empfänger von Grundsicherung ist im Jahr 2011 um 5,9 Prozent gestiegen, und seit der Jahrtausendwende sank, wie die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion verlautbarte, die Kaufkraft der Rentner im Osten um knapp 22 Prozent, im Westen um rund 17 Prozent - so wird eine Zahl nachvollziehbar: 1,5 Millionen Menschen ernährten sich im vergangenen Jahr an den sogenannten Tafeln.

Liebe Genossinnen und Genossen, diese Entwicklungen betreffen natürlich nicht nur die BRD. Im Schatten der Krise werden in vielen EU-Ländern die Arbeitsbeziehungen weiter dereguliert und Arbeitsrechte abgebaut. Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Studie »Arbeitsrechtsreformen in Krisenzeiten - eine Bestandsaufnahme in Europa«(2), die im Auftrag des Europäischen Gewerkschaftsinstituts erstellt wurde. Die Befunde der Studie sind alarmierend. So seien in Ungarn nach der Machtübernahme der rechtskonservativen Regierung gravierende Verschlechterungen des Arbeitsrechts durchgesetzt worden. Erhard Crome äußert in seinem jüngst erschienenen Buch »Neuer Rechtspopulismus« - bezugnehmend auf die Entwicklungen in Ungarn betreffende - äußerst verständnisvolle Einschätzungen nicht nur in der FAZ: »Wenn man länger … nachdenkt, ergibt sich die Frage, ob es Leuten wie denen in der FAZ eigentlich nur um Ungarn geht.« Dann zitiert Crome György Konrad: »Ungarn bietet auch den im Westen Europas existierenden Vorstellungen von einem starken Mann einen Stützpunkt.« Diese Feststellung Konrads wiederum kommentiert Crome folgendermaßen: »Der Satz kann auch so gelesen werden: ›den im Westen Europas existierenden Vorstellungen von der Errichtung eines rechtskonservativen, autoritären Regimes‹. … Die Finanz- und Wirtschaftskrise kann Entwicklungen zur Folge haben, da man autoritäre Herrschaft wieder im breiterem Sinne benötigt. Umso besser, wenn sie durch Wahlen zustande gekommen ist. Und wenn schon mal ausprobiert wird. Etwa in Ungarn.« Soweit Erhard Crome. Zum Ausprobieren gehören dann auch durch faschistische Sturmtrupps überfallene Roma-Dörfer, die Beschimpfung eines Funktionärs der Budapester jüdischen Gemeinde mit den Worten »Ihr stinkenden Juden, ihr werdet verrecken« oder das Verbot, kommunistische Symbole in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Ähnliche Entwicklungen wie in Ungarn werden auch in Slowenien und Estland festgestellt. In Ländern wie Spanien, Italien, Portugal und Griechenland habe der Druck europäischer und internationaler Institutionen wie des IWF massive Einschränkungen der Gewerkschaftsrechte und Einschnitte ins Arbeitsrecht erzwungen, berichten die Autoren der oben erwähnten Studie. »Tarifverträge werden ausgehandelt, um Löhne zu drücken. Gewerkschaften werden gezwungen, Löhne zu senken und Tarifsteigerungen auszusetzen«, fasst Annelie Buntenbach deren Ergebnisse zusammen.

Liebe Genossinnen und Genossen, die Kehrseite der Medaille ist die stetig wachsende Konzentration von Reichtum in den Händen von immer weniger Profiteuren. Laut Manager Magazin stieg der Besitz der vermögendsten hundert Deutschen im Vergleich zum Vorjahr um gut vier Prozent auf 319,85 Milliarden Euro. Die Zahl der Familien mit einem Vermögen von mindestens einer Milliarde Euro erreichte mit 115 einen Höchstwert.

Bei so viel Reichtum muss man natürlich Steuern hinterziehen. Wie dem ND vom 24.07.2012 zu entnehmen war, hatten die Superreichen dieser Welt Ende 2010 die unvorstellbare Summe von 21 bis 32 Billionen US-Dollar in Steueroasen rund um den Globus versteckt. Dies ginge aus einer am 22.07.2012 veröffentlichten Studie des »Tax Justice Network« (Netzwerk für Steuergerechtigkeit) hervor. Die in London ansässige internationale Nichtregierungsorganisation habe sich dem Kampf gegen Finanzoasen und Steuerhinterziehung verschrieben. … Die Zahl der Superreichen wird in der Studie auf unter zehn Millionen geschätzt, wobei 40 Prozent des Vermögens von nicht einmal 100 000 Personen gehalten werden. Und da die Summe des unversteuerten Reichtums größer als vermutet ist, muss auch die Finanzungleichheit in vielen Ländern noch höher als bisher angesetzt werden. … Würden die Zinseinnahmen aus dem in Finanzoasen versteckten Geld mit einem moderaten Satz von 30 Prozent versteuert, könnten sich die Heimatländer über zusätzliche Steuereinnahmen von 190 bis 280 Milliarden Dollar freuen.

Liebe Genossinnen und Genossen, gerade in Anbetracht all dieser schreienden sozialen Ungerechtigkeiten und der sich täglich erweiternden und vertiefenden Krise sowie der zunehmenden Gefahr für den Weltfrieden wächst die Anzahl der Menschen, die sich sozialen Verwerfungen ebenso ausgeliefert fühlen wie einer düsteren Perspektive. Sorgen erdrücken sie und ein Denken über den Tag hinaus kommt ihnen ebenso wenig in den Sinn, wie politisches Engagement. Gerade in Zeiten sozialer Polarisierungen wachsen die Chancen rechter Demagogen, vor allem jener, die scheinbar zur sogenannten Mitte der Gesellschaft zählen und - elitär rassistisch - millionenfach ihre »Besorgnisse« darüber verbreiten, dass Neukölln überall ist und Deutschland sich durch demagogisch als »Überfremdung« bezeichnete Entwicklungen abschaffen könnte. Schon Sigmund Freud hat 1927 den Mechanismus erklärt, der der rechten Demagogie die Energie zuführt: »Nicht die bevorzugten Klassen, welche die Wohltaten der Kultur genießen, sondern auch die Unterdrückten können an ihr Anteil haben, indem die Berechtigung, die Außenstehenden zu verachten, sie für die Beeinträchtigung in ihrem eigenen Kreis entschädigt. Man ist zwar ein elender, von Schulden und Kriegsdiensten geplagter Plebejer, aber dafür ist man Römer.« Nicht ausschließlich, aber vor allem die soziale Situation ist der Nährboden für nationalistische und rassistische Stimmungen, aber ebenso für Sozialchauvinismus. Und diese Stimmungen setzen faschistische kriminelle Energie frei, wie die über zehn Jahre verübten Verbrechen der NSU-Mörderbande es grausam belegen. Dass der Verfassungsschutz mit dem Mördertrio verquickte V-Leute finanzierte und mehrfach vor Strafverfolgungsmaßnahmen warnte, steht nicht mehr in Frage. Dass durch Aktenvernichtung - auch in Verantwortung des Innenministeriums - dieses merkwürdige Gebaren des VS beweislos gemacht werden soll, scheint ebenfalls klar zu sein. Das öffnet Tür und Tor für Spekulationen. Kaum spekulativ dürfte sein, dass die Geheimdienst- und Polizeiarbeit im Ergebnis des behaupteten Versagens der Sicherheitsorgane im Falle der Verfolgung faschistischer Mörder zukünftig erheblich mehr zentralisiert wird. Diese Entwicklungen haben nur scheinbar nichts damit zu tun, dass die Bundeswehr nun auch offiziell im Landesinnern eingesetzt werden kann, dass - wie in der Colbitz-Letzlinger Heide - Gefechtsübungszentren gebaut werden, in denen der Städtekampf trainiert werden soll und dass europäische Polizeieinheiten gemeinsam die Aufstandsbekämpfung üben. Es wird nicht nur darüber nachgedacht, was zu tun wäre, stieße die bürgerliche Demokratie infolge sozialer Verwerfungen, die außer Kontrolle geraten, an ihre Grenzen. Es wird vorbereitet. Das ist der Wesenszusammenhang zwischen der zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft, bis hinein in die Schulen, und der Entwicklung faschistoider und faschistischer Tendenzen, deren Finanzierung, sagen wir es in aller Zurückhaltung, schwer nachvollziehbar ist. Und all das ist bei weitem kein auf die BRD beschränktes Problem.

In seinem bereits erwähnten Buch schreibt Erhard Crome: »Radikale rechtsgerichtete Bewegungen sind in jüngerer Zeit nicht nur in Ungarn, sondern auch in Österreich, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Italien, Finnland, Rumänien, Bulgarien, Griechenland sowie in Skandinavien in Erscheinung getreten.« Und selbst diese Aufzählung ist unvollkommen; denken wir nur an die SS-Traditionsaufmärsche in den baltischen Staaten, den rassistischen Umgang mit den Sinti und Roma in der Tschechischen Republik oder die jüngsten faschistoiden Ausschreitungen in Polen. Faschistische Tendenzen und Bewegungen sind nicht gerade im Abnehmen begriffen. Seitenweise könnte diese Feststellung durch häufig angsteinflößende Beispiele belegt werden. Wir wollen uns hier aus guten Gründen auf entsprechende Vorgänge in Griechenland beschränken. Die Arbeitslosigkeit hatte dort im Juli einen neuen Rekordstand von 25,1 Prozent erreicht. In der Altersgruppe 15 bis 24 Jahre sind sogar 54,2 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung ohne Job. »Mit der Entstehung der (neofaschistischen) ›Goldenen Morgenröte‹«, so formulierte es Manolis Glezos anlässlich des Merkel-Besuches, »zahlen wir schon jetzt für diese Polarisierung in meinem Lande. Sollen wir untätig bleiben angesichts der kommenden Folgen der humanitären Katastrophe? Dann wird es zu spät sein, nicht nur für Griechenland, sondern für ganz Europa.«(3)

Griechische Faschisten gewannen bei den Wahlen am 17. Juni 426.000 Stimmen - 6,9 Prozent. Fast täglich verübten und verüben Mitglieder oder Anhänger der bekennenden Holocaustleugner teils mörderische Angriffe auf Migranten. So drangen sie in die Häuser ägyptischer Fischer nahe Athen ein und verprügelten die Bewohner, von denen einer ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Sie hatten diese brutale Aktion vorher auf einer Wahlkundgebung angekündigt, mit der Begründung, die Ägypter nähmen den einheimischen Fischern die Arbeit weg. Wer annahm, dass solche brutalen Angriffe die Partei Stimmen kosten würden, wurde eines Besseren belehrt. Die international registrierten Faustschläge ihres Pressesprechers ins Gesicht der kommunistischen Abgeordneten Liana Kanelli brachte der Facebook-Seite der griechischen faschistischen Partei noch am selben Tag etwa 6.000 Gefällt-mir-Klicks. Am 6. Juli, unmittelbar nach einer antifaschistischen Demonstration in Piräus griffen Faschisten eine Gruppe Pakistaner an. Als die sich in ihrer Wohnung einschlossen, brachen sie die Tür auf und schlugen drei der Migranten krankenhausreif. Daneben punktete die Partei mit rassistischen Kampagnen.

Zugleich bezeichnet die offizielle griechische Politik die Migranten als »Hygienische Bomben« und Hauptverantwortliche für die Krise, baut Abschiebelager für illegal Eingewanderte und lässt Hunderttausende »Papierlose« ohne jede staatliche Unterstützung. Stimuliert wird dieser zynische Umgang mit den Migranten durch die sogenannte Drittstaatenlösung, die besagt, dass Asylanträge prinzipiell in den EU-Ländern zu stellen sind, über die Asylbewerber oder Flüchtlinge einreisen. Das sind vorwiegend Griechenland und Italien, und mit welcher Brutalität die EU-Frontex-Einheiten den vom Mittelmeer kommenden Flüchtigen begegnen, kann erfahren, wer sich dafür interessiert. Doch nur wenige zeigen Interesse. Aber sehr viele lassen sich durch die veröffentlichte Meinung suggerieren - und auch das bei weitem nicht nur hierzulande - die Migranten, nicht die Niedriglöhne und die zwangsläufig daraus resultierende Altersarmut, zerstörten die Sozialsysteme, weil die Fremden auf Knochen der jeweils Einheimischen lebten. Dass ist das Klima, in dem Faschisten gut gedeihen.

DIE LINKE muss auch diese Fragen offen ansprechen, wenngleich sie nicht zu den populärsten gehören. Wir fühlen uns zur politischen Auseinandersetzung mit den damaligen wie heutigen Wurzeln des Faschismus verpflichtet. Wir tun alles, damit die Hintergründe zur Sprache kommen, vor denen alte und neue Nazis ihren Einfluss erweitern und vertiefen: soziale Verwerfungen, die »Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch« und ein in alle Poren der Gesellschaft eindringender Geschichtsrevisionismus. Nicht das »Studium« des Machwerkes »Mein Kampf« an Schulen - wie z.B. im Cicero auf mehr als 20 Seiten gefordert - macht gegen faschistische Ideologie Front, sondern nur aufklärender Antifaschismus selbst. Wir brauchen keine Tabubrüche, die dem Umgang mit Hitlers Hasspamphlet Normalität verleihen. Wir haben absolut keine Angst davor, uns dem Vorwurf auszusetzen, wir verfügten über eine Zensoren-Mentalität, weil wir - wie übrigens die SPD-Bildungssenatorin in Berlin auch - meinen, »Mein Kampf« gehöre auf keinen Schülertisch. Wir widersetzen uns jeder Form des Antisemitismus, des Antiziganismus und der Muslimfeindlichkeit. Gemäß Artikel 139 des Grundgesetzes fordern wir das Verbot der NPD mitsamt ihren Gliederungen, Neben- und Nachfolgeorganisationen sowie aller anderen Naziorganisationen. Wir verstärken unsere antifaschistischen und antirassistischen Aktivitäten, nicht zuletzt durch Mitarbeit in Bündnissen und Flüchtlingsräten. Gemeinsam mit vielen anderen Mitgliedern der LINKEN übten und üben wir Solidarität mit den hungerstreikenden Asylbewerbern am Brandenburger Tor und mit denen im Camp am Oranien-Platz in Berlin-Kreuzberg. Natürlich werden wir auch für 2013 die Bündnisarbeit und Mobilisierung für »Dresden und Magdeburg Nazifrei« unterstützen.

Liebe Genossinnen und Genossen, auch wir waren unter den Tausenden Demonstranten, die am 13. Oktober und 4. November solidarisch mit Asylbewerbern durch Berlin zogen. Das war auch eine deutliche Antwort auf die unsägliche Provokation von Bundesinnenminister Friedrich, von zunehmendem Asylmissbrauch zu reden, weil aus Serbien und Mazedonien verstärkt Flüchtlinge in die BRD kommen. Es ist bekannt, dass es sich hierbei vorrangig um Roma handelt. Wann endlich wird in diesem Land die Schuld gesühnt, die durch die Ermordung von einer halben Million Sinti und Roma in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern auf dem Rechtsnachfolger des sogenannten Dritten Reichs, der BRD lastet? Ein Denkmal allein, so gut es ist, dass es nun existiert, tut es nicht. Eine Kontingentlösung ist erstrebenswert.

Liebe Genossinnen und Genossen, die meisten Menschen sind vor Krieg, Verfolgung und oft unvorstellbarem Elend geflohen. Über die Ärmsten der Armen unter den Völkern sagte Jean Ziegler: »18 Millionen Menschen sterben jährlich an Hunger, Unterernährung und daraus resultierenden Mangelkrankheiten. … Das geschieht auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt. … Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.«(4) Zu den Folgen z.B., die die Nahrungsmittelspekulationen für ärmere Länder nach sich ziehen, gehört, dass die Menschen dort teilweise bis zu achtzig Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben müssen. Wir wären keine Internationalisten, würden wir über dieses unfassbare Leid und die Ursachen hierfür schweigen. Und da schließt sich der Kreis, wenn wir nur an die Profiteure der Nahrungsmittelspekulationen denken, zu denen auch die Deutsche Bank gehört.

Die sich in jeglicher Hinsicht zuspitzenden gesellschaftlichen Widersprüche verlangen sowohl außerparlamentarischen als auch parlamentarischen Widerstand. Dass DIE LINKE zu beidem in der Lage ist, macht ihre Besonderheit im Spektrum der oppositionellen Kräfte aus. Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Wahlkampfstrategie der LINKEN? Zuallererst wohl die, einen eigenständigen Wahlkampf zu führen, in dem auf konkrete Vorhaben, wie z.B. unser Rentenkonzept, ebenso wenig verzichtet wird, wie auf eine Politik der Aufklärung. Aufklärung bedeutet auch heute, »Licht in die Dunkelheit der Unwissenheit, der Vorurteile und des Aberglaubens zu bringen.« Man muss nur hin und wieder BILD lesen, um zu erfahren, was Antiaufklärung ist. Benito Wogatzki lässt eine seiner literarischen Gestalten im unveröffentlichten Roman »Flieh mit den Löwen« über den Grad dieser Verdummung sagen: »Es kommt nicht nur darauf an, die Welt nicht zu verändern, mein Junge. Wir müssen auch aufhören, sie zu interpretieren.«

Liebe Genossinnen und Genossen, weil die Programmatik der LINKEN gerade hier wider den Stachel löckt, wurde und wird sie derartig denunziert; für uns ein Grund mehr, darum zu ringen, dass diese programmatischen Vorstellungen in unserem Wahlkampf ihren verständlichen Niederschlag finden. Vor allem geht es um die Entlarvung der Ursachen der Krise des kapitalistischen Systems und die Darlegung, welche Rolle wir im Kampf zunächst einmal gegen die schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus spielen wollen. Wollen wir die Krise mit verwalten und bieten dies als Lösung an oder wollen wir als glaubwürdige Oppositionskraft alle unsere Anstrengungen darauf richten, es den oberen zehn Prozent, die 53 Prozent des Reichtums besitzen, zu verunmöglichen, den unteren 50 Prozent, die nur ein Prozent des Vermögens besitzen, noch mehr zu nehmen, als ohnehin schon: Durch Hartz IV, Gesundheitsreform, Erhöhung des Renteneintrittsalters, Einführung von Studiengebühren und all die anderen asozialen Maßnahmen zur Umverteilung des Reichtums von unten nach oben. Wollen wir auch zukünftig für die Mehrheit der Bundesbürger, die gegen deutsche Kriegsbeteiligung sind, die einzig verlässliche Friedenspartei bleiben, oder wollen wir uns auf die Staatsraison der Bundesrepublik Deutschland einlassen, die Bündnistreue gegenüber der NATO und den Militärstrukturen der EU unabdingbar macht?

Liebe Genossinnen und Genossen, spricht irgendetwas dafür, dass eine konsequente Sozial- und Friedenspolitik gemeinsam mit SPD und Grünen in einer Bundesregierung möglich wäre - gerade momentan, da die SPD angekündigt hat, der Stationierung von Bundeswehr-Patriot-Raketen in der Türkei zuzustimmen? Im Parteivorstandsbeschluss vom 13. Oktober »Wahlstrategie der Partei DIE LINKE für das Wahljahr 2013« ist u.a. zu lesen: »Aus einem möglichen Regierungswechsel wird nur mit uns ein wirklicher Politikwechsel. Wir nehmen zur Kenntnis, dass aus heutiger Sicht Politikwechsel und Kanzlerschaft für die SPD nur mit Hilfe der LINKEN möglich sind. Stehen die Sozialdemokraten für einen wirklichen Politikwechsel - zu einem gemeinsamen Projekt der sozialen Gerechtigkeit - werden sie den nächsten Bundeskanzler stellen können. DIE LINKE und viele Mitglieder der SPD und der Grünen sind zu einem für die Gesellschaft so notwendigen linken Reformprojekt bereit.« Ist es wirklich vorstellbar, unter einem Kanzlerkandidaten Steinbrück zu einem gemeinsamen Projekt der sozialen Gerechtigkeit und des Antimilitarismus zu gelangen? Wir halten das für illusionär. Dies ist keine pauschale Ablehnung der in vielerlei Hinsicht guten und verteidigungswerten Wahlstrategie, über die in Vorbereitung des Wahlprogramms gründlich diskutiert werden muss. Einen ersten Beitrag hierzu wollen wir heute mit dem Euch vorliegenden Beschlussantrag leisten.

Nun fürchten manche den Vorwurf, wenn wir uns einer Regierungsbeteiligung a priori verweigern würden, so drängten wir das Land förmlich in die große Koalition. Rein arithmetisch ist an dieser Befürchtung sogar etwas dran. Wäre DIE LINKE das Zünglein an der Waage, so könnte einiges von uns abhängen. Wenn aber die Annahme nicht ganz falsch ist, dass es im Ergebnis der Bundestagswahlen nicht nur auf eine große Koalition hinauslaufen könnte, sondern diese sogar gewollt ist, so kostete uns jeder als Anbiederung an die SPD gewertete Schritt Stimmen. Denn gerade dann wählen die Leute lieber das Original - oder bleiben zu Hause. In einem Wahlkampf, indem CDU und SPD voraussichtlich weiter aufeinander zugehen werden, und auch Schwarz-Grün nicht auszuschließen ist, ist ein möglichst eigenständiger Wahlkampf auch ein taktisches Gebot. Es geht allerdings um weitaus mehr, als um Taktik. Es geht darum, unsere Glaubwürdigkeit zu bewahren, für all die besonders in sozialer Hinsicht zu erwartenden Auseinandersetzungen, welche unausweichlich kommen werden. Letztlich wird es eben nicht von einer großen Koalition oder sonst welchen Regierungsbündnissen abhängen, ob sich die Spaltung der Gesellschaft weiter vertieft. Nur Widerstand außerparlamentarischer und natürlich auch parlamentarischer Art kann denen ernsthaft ihr Geschäft erschweren, die nicht nur in diesem Land real die Macht ausüben. Und die werden bekanntlich nicht gewählt.

Die Tatsache mangelnden außerparlamentarischen Widerstands in der BRD, die bei den europaweiten Aktionen am 14. November erneut deutlich wurde, führt diese Aussage nicht ad absurdum, sondern wirft vielmehr Fragen auf; mindestens zwei: Warum nehmen es so viele Menschen hin, dass die sozialen Unterschiede immer größer werden? Und: Warum werden die Parteien, Organisationen und Bewegungen, deren soziale Ansprüche den Kern ihrer Identität ausmachen, ihrer Mobilisierungsverantwortung ungenügend gerecht? Sicher ist: Bezogen auf unsere Partei betreffen diese Fragen auch die aus rot-roten Regierungsbeteiligungen resultierenden Glaubwürdigkeitsverluste. Doch allein darauf zu verweisen, griffe zu kurz. Es geht um weit mehr, nicht zuletzt um die tiefgehende Problematik, dass der Sozialismusversuch in Europa nicht erfolgreich war und viele Menschen, die im Kapitalismus keine Perspektive sehen, sich dennoch bis dato keinen erneuten Anlauf zu einer nichtkapitalistischen Ordnung vorstellen können. Diese Tatsache lässt sich auch nicht lautstark wegagitieren. Es wäre vermessen, würden wir behaupten, die Antworten auf die brennendsten Fragen ungenügenden linken Einflusses halbwegs befriedigend zu kennen oder gar die Lösungen zur Behebung dieses Zustandes parat zu haben. Und doch müssen wir mehr Antworten finden, in unserer politischen Praxis selbst.

Liebe Genossinnen und Genossen, zurück zum bevorstehenden Wahlkampf. Selbst, wenn die bisher geäußerten Überlegungen den Eindruck erwecken könnten, wir seien gegen Regierungsbeteiligung unter allen Umständen: Ganz so leicht machen wir es uns nicht. Wenn SPD und Grüne morgen sagen würden, sie strebten ein rot-grün-rotes Bündnis an und seien daher bereit, die unter der Schröder-Fischer-Regierung eingeleitete asoziale Politik komplex rückgängig zu machen und in Zukunft sowohl auf deutsche Beteiligung an Militäreinsätzen zu verzichten als auch darauf, als drittgrößter Waffenexporteur der Welt zu agieren, so wären wir verpflichtet, über ein solches Angebot nachzudenken und gegebenenfalls auch zu verhandeln. Warum es aber notwendig sein sollte, der SPD und den Grünen Koalitionsangebote mit - irgendwie doch verwässerten - roten Haltelinien zu machen, um sich von Steinbrück, Gabriel, Roth und anderen buchstäblich Minuten später eine Abfuhr einzuholen, erschließt sich kaum. Mag sein, Koalitionsaussagen waren zu einem frühen Zeitpunkt, etwa im August/September, ein akzeptabler Test. Wahlkampflinie dürfen Koalitionsangebote jedoch zu keinem Zeitpunkt werden. Sonst käme das einem Déjà-vu gleich. 2002 hatten wir das schon einmal. Die Resultate sind zumindest jenen noch in Erinnerung, die seinerzeit PDS-Mitglieder waren.

Und es sei wiederholt: Die SPD denkt gar nicht daran, eine rot-grün-rote Koalition anzustreben. Davon zeugte auch die Äußerung des als links geltenden Berliner SPD-Landeschef Jan Stöß, der im ND vom 15./16.September 2012 auf die Frage »Und wenn es für Rot-Rot-Grün reicht? Die Spitze der Linkspartei hat jüngst Gesprächsangebote in diese Richtung gemacht« antwortete: »Ich glaube, die Linkspartei ist nicht so aufgestellt, dass sie sich als Partner für eine Bundesregierung empfiehlt. Mir ist wichtig, die Wähler der LINKEN für SPD-Politik zurückzugewinnen. Überhaupt sollte die politische Linke ihre Heimat in der SPD finden.« Soweit Stöß. Das ist eine politische Herangehensweise, die wir nicht ernst genug nehmen können. Spätestens hier wird deutlich, dass es maßgeblichen Kreisen in der SPD nicht darum geht, nur mit einer LINKEN zu verhandeln, die sich von Oskar Lafontaine löst, sondern es geht denen darum, so stark wie möglich in eine große Koalition zu gehen, vor allem auf Kosten unserer Partei. Wir sind der Hauptkonkurrent, den man nicht nur schwächen sondern möglichst loswerden möchte. Die zurückliegenden Auseinandersetzungen in unserer Partei hatten mit dieser Strategie der SPD weit mehr zu tun, als es an der Oberfläche wahrgenommen wurde.

Liebe Genossinnen und Genossen, vor einem knappen halben Jahr fand der Göttinger Parteitag statt. Niemand konnte vorher wissen, ob es nach Göttingen DIE LINKE so noch geben würde. Die Gefahr der Spaltung existierte real. Herr Gabriel von der SPD hatte schon das Ende der Party vorausgesagt. Bis vor wenigen Jahren setzte die SPD- Führung auf das altbewährte Prinzip »Wandel durch Annäherung«. Konkret bedeutete das, die Entzauberung unserer Partei im Rahmen rot-roter Koalitionen anzustreben. Und dieses Konzept blieb nicht ohne Erfolge, wie es nicht nur die zehn Jahre Regierungsbeteiligung der PDS bzw. der LINKEN im Land Berlin bewiesen. Dennoch hat die SPD dieses Konzept offenkundig beiseitegelegt. In Thüringen, in Sachsen Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern aber auch in Hessen, im Saarland und 2010 in NRW wären rot-rote bzw. rot-rot-grüne Landesregierungen möglich gewesen. Doch die LINKE wurde behandelt wie Aussatz. Es wurde und wird somit demonstriert: Diese Partei zu wählen, bedeute a priori, seine Stimme zu verschenken. Mit der LINKEN wolle niemand regieren.

Begleitet wird dieser Strategiewechsel der SPD von mindestens zwei sich verstärkenden gesellschaftlichen Tendenzen, die der LINKEN ziemlich zu schaffen machen. Zum einen wird unsere Partei von den Medien in der Regel stiefmütterlich behandelt, wenn von ihr Impulse ausgehen, die eine Politik im Interesse der Bevölkerungsmehrheit befördern sollen. Wenn es nach Göttingen diesbezüglich etwas korrekter zugeht, so vermutlich deshalb, weil sich die Medien in der Einschätzung, welchen Weg DIE LINKE nun gehen wird, noch nicht sicher sind. Wie auch immer hier die Mediennuancen in den kommenden Monaten sein werden, eines ist wohl gewiss: Das Medieninteresse wird sich in jedem Falle auf jegliche Vorgänge in der Partei richten, die diese aus tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Gründen diskreditieren. Dadurch entsteht regelmäßig eine Schieflage in der öffentlichen Wahrnehmung der LINKEN: Sie erscheint zu selten konstruktiv sondern hinterlässt vielmehr häufig einen destruktiven Eindruck. Die LINKE hat sich in der Vergangenheit kaum gegen diese Verzerrungen gewandt. In gewisser Weise haben Teile der Partei diese noch bedient, indem sie mitjammerten, die LINKE müsse sich endlich mit den Problemen der Menschen beschäftigen, statt mit sich selbst. Nun ist diese Forderung ja nicht verkehrt. Erhebt man sie aber, ohne dazu zu sagen, dass die Darstellung der Partei durch die veröffentlichte Meinung verlogen - weil total einseitig - ist, dann macht man sich sehr schnell selbst zum Teil der laufenden Manipulationen. Statt uns nach Vorgaben der veröffentlichten Meinung zu geißeln, sollten wir offensiver entlarven, dass die Medien zum einen mit doppelten Standards messen und zum anderen die modernen Königsmacher sind, die die innerparteiliche Demokratie - und das bezieht sich bei weitem nicht nur auf uns - zunehmend zur Phrase verkommen lassen. Wie war es z.B. möglich, dass die FDP, deren Untergang bis kurz vor den Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen allabendlich in der Tagesschau vorausgesagt wurde, in beiden Ländern erneut in den Landtag einzog? Weil die Medien die jeweiligen Spitzenkandidaten in den Himmel hoben. Zwei Leute kompensierten den Niedergang einer Partei, weil die Medien es letztlich so wollten. Und wer glaubt, dass die gewaltigen Erfolge der Piraten ihrer einmaligen Anziehungskraft geschuldet waren, der übersieht schlicht, wer diese Anziehungskraft tagtäglich produzierte. So baut man Kräfte auf, die - zumindest zeitweilig - wie einflussreiche politische Faktoren wirken, obwohl sie eher politische Blasen sind, die in sich zusammenfallen, wenn die mediale Luftzuführung gestoppt wird.

Die Medien sind nicht die vierte Gewalt. Sie sind die entscheidende ideologische Waffe des Kapitals, selbst Teil desselben - und manipulieren täglich 24 Stunden lang Millionen Menschen im Interesse der Herrschenden. Leander Sukov hat das in der jW vom 4. Juli so formuliert: »Pressefreiheit gibt es in Deutschland nur noch in homöopathischer Form. Bis auf ein paar Ausnahmen, die man an den Fingern einer Hand abzählen kann, gehören die Printmedien zehn Konzernen. … Offen gelogen wird kaum - das falsche Abbild der Wirklichkeit entsteht dadurch, dass uns wichtige Informationen vorenthalten werden: Was der Bürger nicht weiß, macht ihn auch nicht heiß.«(5) Soweit Sukov.

Die Pressefreiheit ist zuvörderst die Freiheit der herrschenden Meinung - die ja bekanntlich die Meinung der Herrschenden ist - in die Medien zu bringen, was den Herrschenden genehm ist und ihnen nützt. Die sogenannte Pressefreiheit hätte also dort ihre Grenzen, wo der oben beschriebene Manipulationsmechanismus empfindlich gestört würde. Sie erlaubt Zeitungen wie dem ND, der jW oder auch kleinen Blättchen, wie dem unsrigen, zu existieren, weil wir anscheinend der unschlagbare Beweis für die vielgerühmte Meinungsfreiheit sind. Wissend, dass wir so gesehen sogar instrumentalisiert werden, müssen wir dennoch weiter machen, weil die Wahrheit sonst überhaupt nicht mehr zu finden ist. So komplex und widersprüchlich sind die politisch-ideologischen Prozesse, in deren Rahmen wir agieren und wir können nur dann überhaupt etwas bewirken, wenn wir uns dieser Ambivalenz bewusst sind. Alles andere führt in die Isolation oder zu einer gefährlichen Selbstüberschätzung.

Liebe Genossinnen und Genossen, das Agieren der Medien geradezu misstrauisch zu analysieren, sollte auch eine Lehre aus dem Fusionsprozess von etwa 2004 bis 2007 werden. In diesen knapp drei Jahren behandelten uns die Medien mit etwa gleicher Aufmerksamkeit, wie sie die Piraten bis zu den NRW-Wahlen behandelten und anscheinend im Vorfeld der Niedersachsenwahl schon nicht mehr. Vor allem traf das auf die Quellpartei WASG zu. Wenn sich da fünfzehn Leute in einem Kneipenhinterzimmer versammelten, waren mindestens drei Fernsehkameras anwesend und es flimmerte anschließend über den Bildschirm, nur mit der WASG habe die PDS im Westen noch eine Chance. Nun war das ja nicht nur verkehrt. Aber - weil uns das natürlich in den Kram passte, wurde so gut wie nicht hinterfragt, warum unsere politischen Gegner, und dazu gehören die Medien mit ganz wenigen Ausnahmen, den Fusionsprozess so hilfreich begleiteten. Bis heute kann hier nur spekuliert werden. Hatten sie die Hoffnung, dass mit stärkerem Einfluss der Westlinken mehr Antikommunismus in unsere Partei einzieht? Meinten sie, dass die unterschiedlichen sozialen Erfahrungen, die bei einer Fusion konstruktiv verarbeitet werden mussten, genügend Sprengkraft für eine Spaltung darstellten? Hofften sie auf einen zerstörerischen persönlichen Konkurrenzkampf zwischen Gysi und Lafontaine oder gingen sie einfach nur davon aus, dass es reichen würde, die Illusionen über die Möglichkeiten einer vereinten Linken so auszuprägen, dass die mit Gewissheit kommenden Mühen der Ebene nicht nur desillusionieren, sondern das Maß der Desillusionierung zerstörerisch wirken würde - zumindest für alle politisch unerfahrenen Mitglieder - und die strömten ja seinerzeit in Größenordnungen in die beiden Quellparteien und in die vereinigte LINKE. Vielleicht war es auch alles zusammen, worauf die Medien hofften.

Kaum einer von uns stellte sich seinerzeit die Frage, warum sie uns so zuvorkommend behandeln. Wir genossen es, einmal nicht die Schmuddelkinder zu sein. Als sie dann die Gangart wechselten, waren wir gar nicht darauf eingestellt, dass dies die andere Seite der Medaille war. Wir ließen uns einreden, wir seien plötzlich unattraktiv geworden und persönliche Eitelkeiten und auch einige Dummheiten führten dazu, zwei Menschen dafür in Haftung zu nehmen: Gesine Lötzsch und Klaus Ernst. Diese weitgehende Entsolidarisierung produzierte noch zusätzliches Gift.

Soweit zu einer, vor allem über die Medien gesteuerten gesellschaftlichen Tendenz, die den beschriebenen Strategiewechsel der SPD begleitet. Die andere kommt direkt von den Geheimdiensten. Erinnern wir uns: Anfang des Jahres wurde über die Medien gestreut, 27 LINKEN-MdB würden vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Ein unglaublicher Vorgang, zumal er auch Abgeordnete betraf und betrifft, die tonangebend im Reformerlager sind. Viele meinten, der VS sei zu dumm, um die richtigen Leute unter die Lupe zu nehmen. Jan Korte äußert auf einem Basistreffen in Berlin-Mitte sogar, der VS würde eben diejenigen beobachten, die er wirklich ernst nehme. Aber - nach welchen Kriterien die Geheimdienste unsere Leute beobachten, wissen wir ja nicht wirklich. Da spielen Biografien eine Rolle, frühere Tätigkeiten, auch Studienorte, heutige wie frühere Kontakte, manchmal auch frühere Einbindungen der Eltern, vermutete Verpflichtungen, die womöglich noch aus der Schulzeit rühren und weiß Gott, was sonst noch alles. Es ist eigentlich vollkommen gleichgültig, aus welchen Gründen sie wen von uns beobachten. Dass sie es tun, ist wohl für keinen Verantwortungsträger in der LINKEN eine Riesenüberraschung. Was uns aufschrecken muss, ist ihre Indiskretion. Oder glaubt auch nur ein einziger Mensch, dass eine solche Information an die Presse geht, weil Journalisten in den Diensten recherchieren? Und glaubt auch nur ein Mensch - den Schwachsinn, so etwas könne vorkommen einmal vorausgesetzt - irgendeine Chefredaktion würde dies dann gegen den Willen eines Dienstes veröffentlichen und danach würde es nicht einmal einen Autounfall geben? Nein, es war pure Absicht, in die Presse zu bringen, dass LINKE-MdB im Fokus des VS stehen. Denn die psychologische Wirkung solcher Meldungen ist nicht gering zu schätzen. Wenn selbst vor denen nicht halt gemacht wird, wird sich da so mancher sagen, der mit uns sympathisiert, was passiert dann mit mir, als normalem Bürger, wenn ich dieser Partei beitrete oder mich für sie als Sympathisant engagiere? Was wird aus meinem Job? Welche Nachteile könnte das für meine Familie haben? Kriege ich nach meinem Studium eine Karrierechance? Diese scheinbare Indiskretion, dass Bundestagsabgeordnete der LINKEN beobachtet werden, zielt darauf, uns den Nachwuchs zu nehmen. Denn sie zielt darauf, junge Menschen und die mittlere Generation davon abzuhalten, sich eventuell irgendwann für die LINKE zu entscheiden. In Anbetracht des Altersdurchschnitts unserer Partei geht es hier um eine strategische Frage.

Liebe Genossinnen und Genossen, über die Gründe für den Wunsch, nicht nur der SPD, der LINKEN den Garaus zu machen, muss nicht gegrübelt werden. Die liegen auf der Hand. Niemand weiß, was die Krise des Kapitalismus uns in nicht ferner Zukunft bringt. Niemand weiß, welche Relevanz die dem Weltfrieden drohenden Gefahren schon morgen haben können. Da liegt es im Interesse der Herrschenden, sich rechtzeitig aller Kräfte zu entledigen, die Widerstand bündeln könnten. Und so kritisch man DIE LINKE auch zu Recht betrachten kann: Sie ist eine solche Kraft, mehr als manche meinen, die kein gutes Haar an ihr lassen, deren Organisationen aber leider kaum jemand kennt. Gerade die marxistisch orientierten Kräfte in der LINKEN haben die Verpflichtung, alles zu tun, damit das oppositionelle Potential der LINKEN nicht den Anpassungsbestrebungen einer Minderheit geopfert wird, denen Regierungsbeteiligung beinahe ein Wert an sich ist und die auch jetzt - in der Phase der Erarbeitung des Wahlprogramms für die Bundestagswahlen 2013 - bestrebt sind, die inhaltlichen Positionen so SPD/Grünen-kompatibel wie möglich zu formulieren. Wie bereits erwähnt beschloss der Bundesvorstand im Oktober unsere Wahlstrategie. In die Diskussion darüber wird auch die KPF ihre Positionen vielfältig einbringen. Im Februar 2013 wird der Bundesvorstand den ersten Entwurf des Wahlprogramms verabschieden. Im März wird der Entwurf auf Regionalkonferenzen debattiert und im April 2013 als Leitantrag zur Vorbereitung des am 14., 15. und 16. Juni stattfindenden Parteitages in Dresden vorgelegt werden. Und noch ein Wort zur Wahlstrategie. Dort ist von der strategischen Verbindung der Landtagswahlen mit der Bundestagswahl die Rede, mit direktem Bezug auf Niedersachsen, wo der Urnengang am 20. Januar 2013 stattfindet. Der Landtagswahlkampf in diesem Bundesland wird - und das ist nicht übertrieben - als Weichenstellung bezeichnet. Wir danken unseren Genossinnen und Genossen der niedersächsischen DKP für ihren Beschluss, die LINKE im Wahlkampf zu unterstützen.

Liebe Genossinnen und Genossen, Göttingen ist nicht zur Entscheidungsschlacht geworden. Und die Vorbereitung der Bundestagswahlen darf es auch nicht werden. Wer nach Göttingen Diskussionen an der Parteibasis erlebt hat, der weiß, dass die Genossinnen und Genossen nicht auf Entscheidungsschlachten aus sind. Ein wie auch immer gearteter Ausgang einer solchen käme dem Selbstmord der LINKEN gleich. Die Reformer können den eher antikapitalistischen Kräften nicht den Einfluss nehmen, denn die reflektieren ja die herrschende Stimmung an der Basis der Partei. Und der antikapitalistische Flügel kann nicht über die Reformer die Oberhand gewinnen, denn die beherrschen zumindest im Osten die Parteistrukturen. Sie stellen die überwältigende Mehrheit in den Landtagsfraktionen und Landesvorständen und haben somit einen überragenden Einfluss auf die parteinahen Medien, die Finanzen und weitere Faktoren, ohne die eine Partei nicht existenzfähig ist. Auf die Ursachen hierfür einzugehen, kann nicht Gegenstand dieses Berichtes sein. Dies bedürfte einer längeren wissenschaftlichen Abhandlung, die weit in die Geschichte zurückgeht.

Liebe Genossinnen und Genossen, Göttingen hat knapp oberhalb der Erträglichkeitsgrenze bewiesen: DIE LINKE kann auf Grund des in ihr herrschenden Kräfteverhältnisses nur in ihrer Widersprüchlichkeit existieren und damit etwas bewirken oder sie gibt sich auf. DIE LINKE soweit wie möglich antikapitalistisch - also programmgemäß - agieren zu lassen, das verlangt eine permanente, notwendigerweise kulturvoll zu führende Auseinandersetzung. Das fds - um das Kind organisatorisch einmal beim Namen zu benennen - wird diese Auseinandersetzung nicht administrativ entscheiden können und solche wie wir eben auch nicht. So anstrengend das auch ist. Wir haben uns mit dieser Problematik sowohl in unserer im Oktoberheft veröffentlichten Erklärung »Gemeinsame Probleme gemeinsam lösen« als auch in unserem in den Augustmitteilungen dokumentierten Papier »Zur Strömungsdebatte in der LINKEN« ausführlich auseinandergesetzt. Die Diskussionen zu diesen Erklärungen haben gezeigt, dass es in einer Frage noch weiteren Klärungsbedarf gibt: Es ist die nach dem Wesensunterschied zwischen den grundlegenden Richtungen in der LINKEN. Wir verzichten in voller Absicht hier auf die Begriffe Strömungen oder Zusammenschlüsse, weil vom Kern der Sache nicht abgelenkt werden soll. Es gibt in der LINKEN zwei Tendenzen: Die kapitalismuskritische und die antikapitalistische. Darin liegt die Chance und Schwierigkeit zugleich. Die Chance besteht darin, dass es keine prinzipielle Hürde gibt, gemeinsam zu arbeiten. In einer Frage nämlich ist man sich in vielerlei Hinsicht einig: in der Ablehnung desjenigen Kapitalismus, mit dem wir uns in der Gegenwart auseinandersetzen müssen. Die Differenz beginnt - holzschnitzartig beschrieben - bei der Frage, ob es einen Kapitalismus mit so etwas wie einem menschlichen Antlitz gibt, für den zu kämpfen es sich lohnt, oder ob der Kampf um ein besseres Dasein im Kapitalismus nur eine Zwischenetappe auf dem Weg ist, den Kapitalismus als Gesellschaftssystem zu überwinden und an seiner Stelle eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Nur so erklärt sich, dass manche in der LINKEN einen erwünschten Kapitalismus mit menschlichem Antlitz schon als eine Art Sozialismus betrachten und eine ernsthafte Erörterung der Eigentumsfrage, über staatliches Eigentum im Kapitalismus hinaus, ablehnen, während andere die Eigentumsfrage mit der Forderung nach einem Systemwechsel verbinden. Und das betrifft bei weitem nicht mehr nur Kommunistinnen und Kommunisten in und außerhalb unserer Partei. So forderten Aktivisten auf einem Treffen der Gewerkschaftslinken am 22./23. September in Frankfurt am Main, auch die Systemfrage müsse weiter thematisiert werden. Zugegeben: Nicht alle, die einen Systemwechsel fordern, werden darunter das Gleiche verstehen. Aber zumindest verbürgt dieser Begriff, dass das herrschende System der Profitmaximierung als überlebt betrachtet wird, weil es die Menschheit an seine Überlebensgrenzen treibt.

Aus dieser unterschiedlichen Sicht auf den Kapitalismus ergeben sich mindestens zwei weitere grundlegende Unterschiede. Zum einen wird die Frage nach dem Primat sozialistischer Politik - Opposition oder Regierungsbeteiligung - faktisch entgegengesetzt beantwortet. Diejenigen mit vorwiegend antikapitalistischer Orientierung geben der Opposition das Primat und würden Regierungsbeteiligungen nur unter bestimmten Voraussetzungen akzeptieren, gewöhnlich rote Haltelinien genannt. Die Reformer kämpfen primär um die Teilhabe an Regierungen und stehen den roten Haltelinien äußerst skeptisch gegenüber. Zum anderen bestimmt das Verhältnis zum heutigen Kapitalismus den Umgang mit der Vergangenheit weitgehend. Wer dem Kapitalismus ein menschliches Antlitz zutraut, geht mit den Systemdefiziten und Mängeln des gewesenen Sozialismus im Regelfalle bedeutend unnachgiebiger um, als jene, die es für unmöglich halten, den Kapitalismus sozusagen zu läutern und daher selbst den unreifsten Sozialismus für zukunftsträchtiger halten, als den perfektesten Kapitalismus. In Kurzform kann man es vielleicht so sagen: Antikapitalisten und Kapitalismuskritiker sind sich in vielen Fragen einig, die positive Reformen und Abwehrkämpfe im Kapitalismus betreffen. Damit sind nicht nur soziale Forderungen gemeint, sondern ebenso antifaschistische und antirassistische Aktionen, Solidarität mit den Schwächeren und Schwachen der Gesellschaft, besonders auch mit Migranten, Flüchtlingen und Asylbewerbern. Diese breite Möglichkeit zur gemeinsamen politischen Linie und Aktion und macht die gesellschaftliche Relevanz der LINKEN aus. Wird diese Möglichkeit durch prinzipienlose Regierungsbeteiligungen verspielt oder auch nur ernsthaft geschmälert, so verliert sie ihre Bedeutung. Das ist es, worauf die antikapitalistischen Kräfte immer wieder ihren Finger legen, und warum ideologische Auseinandersetzungen in der Partei trotz der gemeinsamen Handlungsoptionen nicht nur stattfinden, sondern sogar erforderlich sind - damit eben die Gemeinsamkeiten nicht verspielt werden. Der linke Charakter unserer Partei, der in ihrem Programm festgeschrieben ist und die sozialistischen Tendenzen unserer Alltagspolitik hervorbringt, muss jederzeit bewahrt bleiben - bewahrt vor allem durch die Parteibasis. Und es ist wohl über zwei Jahrzehnte erwiesen: Gerade die marxistisch orientierten Kräfte in der Partei, darunter nicht unwesentlich die KPF, haben sich immer wieder als Sprachrohr der an der Parteibasis vorherrschenden Stimmungen und Meinungen bewährt; ob z.B. in puncto Geschichte, oder auch hinsichtlich der geltenden friedenspolitischen Prinzipien. Und allen Bemühungen zum Trotz gelang es nicht, der Partei ernst zu nehmende antikommunistische Züge oder auch den Verzicht auf die geltenden friedenspolitischen Prinzipien aufzuzwingen.

Liebe Genossinnen und Genossen, die Dialektik linker Politik besteht heute mehr denn je im Zusammenwirken parlamentarischer Präsenz und außerparlamentarischer Aktionen. Die Teilnahme an Wahlen und die Mitgliedschaft in Parlamenten ermöglichen - eine Garantie gibt es nicht - einen zumindest spürbaren progressiven Einfluss in der Gesellschaft. Denn die Medienmacht - ohnehin schon erdrückend genug - kann nur punktuell dazu gebracht werden, über linke Politik zu berichten: Wenn nämlich über parlamentarische Präsenz ein gewisser Zwang dazu besteht. Ein weiterer Grund dafür, dass der Wiedereinzug in den Bundestag von elementarer Bedeutung ist, liegt in der ebenso schlichten wie schwerwiegenden Tatsache begründet, dass das Nichtüberspringen der Fünfprozenthürde das mittelfristige Aus für die Partei bedeuten kann. Was würde dann aus dem Westteil der Partei und wäre aus dem Osten dann außer blankem Pragmatismus noch etwas zu erwarten? Es ließe sich hier trefflich spekulieren. Aber das Thema ist zu substantiell, als das es zum Spekulieren taugt. Real ist eine gute Wahlstrategie und wird ein solides Wahlprogramm sein. Und noch etwas: Wir bewältigen nunmehr die Mühen der Ebene. Wer jetzt 11 oder 12 Prozent zum Ziel erklärt, schafft psychologisch dafür die Voraussetzung, dass dann bei »nur« 8 oder 9 Prozent von einem schlechten Wahlergebnis geredet würde. So kann man sich auch die Kraft zum Kämpfen nehmen. Mit der Formulierung im Rahmen der Wahlstrategie, »Wir wollen ein Zweitstimmenergebnis, das möglichst nah an unser sehr gutes Abschneiden bei der Bundestagswahl 2009 heranreicht« können wir gut leben.

Wir sind uns sicher einig: Die entscheidende Aufgabe, vor deren Lösung unsere Partei jetzt steht, ist der Wiedereinzug in den Bundestag. Natürlich sind auch die Personalfragen von elementarer Bedeutung. Aber in aller Unmissverständlichkeit sei festgestellt: Im Mittelpunkt des Wahlkampfes steht nicht die zukünftige Fraktionsspitze der LINKEN sondern eben der Wiedereinzug der LINKEN in das Bundesparlament. Jegliche machtorientierte Personaldebatte, die von dieser Hauptaufgabe wegführt, halten wir für unverantwortlich, von wem auch immer sie ausgehen mag. Uns interessiert momentan nicht im Geringsten, wer nach den Wahlen die Fraktion anführen wird, denn ein Streit um dieses Thema wäre der beste Beitrag dazu, dass er sich erübrigen könnte. Wir verhehlen dabei natürlich nicht, dass wir uns Sahra, aber genauso Gregor, in vorderster Reihe der Wahlkämpfer wünschen.

Liebe Genossinnen und Genossen, wir können und wollen im Bericht des Sprecherrates nicht zu allen Fragen Stellung nehmen, mit denen wir uns seit der letzten KPF-Bundeskonferenz im April befassten. Alle wesentlichen Aktivitäten und Stellungnahmen sind in den Mitteilungen dokumentiert. In immer stärkerem Maße nutzen wir unser Heft des Weiteren, um Argumentationshilfen in verschiedensten Fragen zu geben und auch, um zu mobilisieren. Wir könnten Ausgabe für Ausgabe durchgehen und fänden in jeder wertvolle Beiträge für unsere tägliche politische Arbeit. Dies ist nur möglich, weil ausgezeichnete Autorinnen und Autoren für uns unentgeltlich schreiben. Dafür möchten wir uns bei ihnen von ganzem Herzen bedanken, stellvertretend möchten wir unserem lieben Genossen Herrmann Klenner Dank sagen. Sein »Nachdenken über Kommunismus« war eine wahre Fundgrube und hat bewiesen: Es gibt kein Thema, das nicht behandelt werden kann - wenn es gekonnt behandelt wird. Es ist unsere gemeinsame Pflicht, alles zu tun, um die materiellen Grundlagen für den Erhalt unseres Heftes durch ein erhöhtes Spendenaufkommen zu gewährleisten. Genosse Helmut Müller wird über den aktuellen Stand in der Diskussion sprechen.

Und noch etwas: Am 13. Januar 2013 findet die Ehrung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht statt und in deren Rahmen die vom LL-Bündnis organisierte Demonstration. Bitte tut in Euren Ländern gemeinsam mit den Bündnispartnern aus dem antifaschistischen Spektrum, der DKP und anderen hier im Einzelnen nicht benannten Mitkämpfern frühzeitig und gut organisiert alles für eine wirkungsvolle Mobilisierung zur Demonstration. Unter keinen Umständen dürfen wir Routine zulassen, was einschließt, auf jede Form der Provokation eingestellt zu sein. Und Provokationen lässt man am besten ins Leere laufen. Wir sammeln weiter Unterschriften unter den Bündnisaufruf, gerade in Anbetracht dessen, dass sich faktisch ein Gegenbündnis konstituiert hat, dass zu Aktivitäten parallel zum Stillen Gedenken und zur traditionellen Demonstration auffordert. Wir beginnen heute mit dem Verkauf des von Thomas J. Richter gestalteten Buttons.

Liebe Genossinnen und Genossen, für die bevorstehende Arbeit bleibt unverändert unsere Position: »Für die KPF gilt, in Vorbereitung der Bundestagswahlen alles ihr Mögliche zu tun, damit die Auseinandersetzungen zu inhaltlichen Fragen, die es bei der Erarbeitung des Wahlprogramms naturgemäß geben wird, so kulturvoll wie möglich verlaufen. Unser entschiedenes Interesse gilt den bestmöglichen Bedingungen für einen Wiedereinzug unserer Partei in den Bundestag. An Kungeleien im Kontext mit Personalentscheidungen werden wir nicht teilnehmen. Für die Erhaltung der Rechte der Zusammenschlüsse werden wir kämpfen.«

Anmerkungen

(1) junge Welt, 29./30.09.2012: »Unaufhaltsam abwärts«
(2) Stefan Clauwaert, Isabelle Schömann: »The crisis and national labour law reforms – a mapping exercise«. Working Paper 2014.04, European Trade Union Institute (ETUI), Brussels 2012, Online-Fassung siehe: www.etui.org/content/download/5748/56169/file/WP+2012+04+Web+version.pdf. Die deutsche Übersetzung mit dem Titel: »Arbeitsrechtsreformen in Krisenzeiten – eine Bestandsaufnahme in uropa«, ist online verfügbar unter: www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/120628_web_version.pdf
(3) neues deutschland, 30.07.2012
(4) neues deutschland, 29./30.09.2012
(5) junge Welt, 04.07.2012, »Negerkuss im Bundestag«, Leander Sukov