1. Tagung der 17. Bundeskonferenz

Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament

Referat von Sabine Lösing, MdEP

Liebe Genossinnen und Genossen, ich wurde gebeten, hier einen Ausblick auf die Zeit nach den Europawahlen 2014 zu geben und zwar besonders, was die künftige EU-Militärpolitik anbelangt.

In gewisser Weise sind wir mit diesem Thema - leider, muss ich sagen - topaktuell. Denn in Kürze, am 19. und 20. Dezember, wird sich der Rat der Staats- und Regierungschefs zum ersten Mal seit 5 Jahren wieder allein mit dem Thema EU-Militärpolitik befassen. Und dort sollen auch entscheidende Weichen für die weitere Militarisierung der Europäischen Union für die Zeit nach 2014 gestellt werden.

Bevor ich darauf eingehen möchte, welche Vorschläge von der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton für dieses Gipfeltreffen vorgelegt wurden, möchte ich zunächst auf die aus meiner Sicht wesentlichen interessenspolitischen Triebfedern hinter der Militarisierung der Europäischen Union zu sprechen kommen.

EU-Interesse I: Weltmachtanspruch

Ein erstes solches Interesse ergibt sich aus dem immer offener formulierten EU-Anspruch auf eine Weltmachtrolle auf gleicher Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China.

Der frühere englische Premierminister Tony Blair hat diesen Anspruch vor einiger Zeit folgendermaßen zusammengefasst: "Für Europa ist es wesentlich, dass es versteht, dass die einzige Möglichkeit, um Unterstützung für Europa zu erhalten, heute nicht auf einer Art Nachkriegssicht basieren kann, dass die EU notwendig für den Frieden ist. […] Die Existenzberechtigung Europas basiert heute auf Macht, nicht auf Frieden. […] In einer Welt, in der vor allem China dabei ist, zur dominierenden Macht des 21. Jahrhunderts zu werden, ist es für Europa vernünftig, sich zusammenzuschließen, um sein kollektives Gewicht zu nutzen, um globalen Einfluss zu erlangen."

Doch mit einer Politik, die wirklich den Friedensnobelpreis verdient hätte, ist aus Sicht der EU-Eliten eine solche Weltmachtrolle nicht umsetzbar - dafür sind umfassende militärische Fähigkeiten erforderlich.

Auch hierzu ein Zitat, diesmal von Nick Whitney, dem ehemaligen Leiter der EU-Verteidigungsagentur, um die diesbezüglichen Überlegungen innerhalb der EU-Eliten zu veranschaulichen: "Der Wert der bewaffneten europäischen Streitkräfte besteht nicht so sehr darin, speziellen ‚Gefahren‘ zu begegnen, sondern weil sie ein notwendiges Instrument von Macht und Einfluss in einer sich schnell verändernden Welt darstellen, in der Armeen immer noch wichtig sind."

Ganz ähnlich äußert sich auch Andreas Schockenhoff, der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: "Europa muss auch im 21. Jahrhundert in der Lage sein, militärische Macht einzusetzen, wenn dies der Wahrung und Durchsetzung seiner Interessen und Werte entspricht sowie völkerrechtlich legitimiert und politisch geboten ist. ‚Militärische Macht‘ bleibt ein Strukturprinzip internationaler Beziehungen."

Ohne EU-Militär keine EU-Weltmacht! In dieser, tief im Denken der politischen Elite verwurzelten Strategie sehe ich also die erste und ganz wesentliche Triebfeder für den EU-Militarisierungsprozess, der spätestens 1999 in Gang kam.

Entwicklung der EU-Militarisierung

Das Jahr 1999 ist deshalb so entscheidend, weil die Europäische Union damals beschloss, eine Armee in der Größenordnung von 60.000 Soldaten aufzubauen, die mittlerweile für einsatzbereit erklärt wurde. Berücksichtigt man die für ein solches Kontingent notwendige Rotation, müssen je nach Schätzung 150.000 bis 180.000 Soldaten vorgehalten werden. Als ursprüngliches Einsatzgebiet dieser auch unabhängig von der NATO (und damit den USA) einsetzbaren Truppe waren 4.000 km rund um Brüssel vorgesehen.

Die ersten Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) erfolgten ebenfalls bereits im Jahr 2003 - "Concordia" in Mazedonien und "Artemis" im Kongo. Übrigens: der Kongo ist mehr als 4.000 km von Brüssel entfernt, womit auch diese, ohnehin schon kleine Einschränkung von EU-Einsätzen ad acta gelegt wurde. Seither kommen immer häufiger weitere Einsätze hinzu, mittlerweile fanden - je nach Zählung - knapp 30 solcher Missionen statt - Tendenz steigend!

Doch auch wenn, wie gesagt, ein grundsätzliches Interesse an einem umfassenden Militärapparat besteht, dienen diese EU-Einsätze natürlich auch der Durchsetzung ganz konkreter Interessen.

EU-Interesse II: Rohstoffe

Das führt mich zum zweiten Militarisierungstreiber, der zunehmenden Konkurrenz um Rohstoffe und der wachsenden Bereitschaft, sich diese im Notfall militärisch buchstäblich unter den Nagel zu reißen. Dies betrifft natürlich vor allem Öl und Gas, aber auch andere wichtige Bodenschätze.

Seit Jahren werden offen Szenarien zur Führung von EU-Rohstoffkriegen konkret ausgeplant. Bereits 2004 veröffentlichte das "Institute for Security Studies" (ISS), die wichtigste EU-eigene Denkfabrik, die Ergebnisse einer hochrangig besetzten Expertengruppe. Unter dem vollen Titel "Europäische Verteidigung: Ein Vorschlag für ein Weißbuch" wurden zahlreiche EU-Interessen definiert sowie verschiedene militärische Einsatzoptionen präsentiert, um diese gewaltsam durchzusetzen. Als ein solches "vitales Interesse" wird dort u.a. die "ökonomische Überlebensfähigkeit" benannt. Die hierfür erforderliche "Mission" sei der "Stabilitätsexport zum Schutz von Handelsrouten und dem Fluss von Rohstoffen".

EU-Interesse III: Absicherung der neoliberalen Globalisierung

Schließlich sehe ich drittens ein wesentliches Interesse darin, in einer Art "Vorwärtsverteidigung", den katastrophalen Folgen der verfehlten EU-Politik möglichst weit entfernt begegnen zu können. Konkret meine ich damit, dass die neoliberale europäische Außenwirtschaftspolitik massiv zur Verarmung des globalen Südens beiträgt. Hieraus resultierende Armutskonflikte werden von den florierenden EU-Rüstungsexporten noch weiter befeuert.

Gefährden lokale Konflikte aber wichtige EU-Interessen, wird dann versucht, diese soweit wie möglich militärisch zu deckeln. Gleichzeitig wird alles dafür getan, dass Menschen, die vor diesen Zuständen und Konflikten fliehen wollen, an der Festung Europa hängen bleiben.

Dies wird teils auch erschreckend offen eingeräumt: Im Mai 2011 erschien die deutsche Ausgabe des Sammelbandes "Perspektiven für die europäische Verteidigung 2020", der von der hauseigenen Denkfabrik der Europäischen Union, dem "Institute for Security Studies" in Paris herausgegebenen wurde. Darin heißt es:

"Abschottungseinsätze - Schutz der Reichen dieser Welt vor den Spannungen und Problemen der Armen. Da der Anteil der armen, frustrierten Weltbevölkerung weiterhin sehr hoch sein wird, werden sich die Spannungen zwischen dieser Welt und der Welt der Reichen weiter verschärfen - mit entsprechenden Konsequenzen. Da es uns kaum gelingen wird, die Ursachen dieses Problems, d.h. die Funktionsstörungen der Gesellschaften, bis 2020 zu beseitigen, werden wir uns stärker abschotten müssen. […] Für den Schutz der Ströme werden globale militärpolizeiliche Fähigkeiten (Schutz von Seewegen und kritischen Knotenpunkten etc.) und eine gewisse Machtprojektion (Verhinderung von Blockaden und Bewältigung von regionaler Instabilität) erforderlich sein."

Beispiel Somalia

Ein Beispiel, wo all diese Aspekte zusammentreffen, ist der EU-Anti-Piraterieeinsatz ATALANTA. Wo liegen die Ursachen für das "Piraterieproblem" am Horn von Afrika vor der Küste Somalias?

Somalia war in den 1980er Jahren in die sogenannte Schuldenfalle geraten. Es folgten Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds - Rückbau des Staates, Öffnung für westliche Investitionen und Produkte, Abbau von Sozialleistungen, etc.

In der Folge brach Somalia zusammen, es entstand das, was man heute einen "gescheiterten Staat" nennt. Die Küstenwache konnte nicht mehr entlohnt werden und musste entlassen werden. Da niemand mehr zur Verfügung stand, um die 12-Meilen-Zone zu kontrollieren, wurde diese anschließend von EU-Fischfangtrawlern leergeräumt, womit zahlreichen dortigen Fischern die Lebensgrundlage entzogen wurde.

Aus Küstenwache und verarmten Fischern setzten sich dann die ersten "Piraten" zusammen, die Schiffe aufbringen und - aus Sicht der EU - den freien Warenverkehr und insbesondere die Tankerschifffahrt durch den Golf von Aden gefährden, wie in den betreffenden Sitzungen des EU-Unterausschusses Sicherheit und Verteidigung offen gesagt wird.

Anstatt die Ursachen anzugehen, entsendet die EU seit 2008 im Rahmen der Mission ATALANTA Kriegsschiffe in die Region. Sie sollen ein Problem wortwörtlich bekämpfen, dessen Ursache viel mit der EU-Interessenspolitik zu tun hat und dessen Lösung auch genau dort ansetzen müsste.

Erinnert man sich an die ursprüngliche Begründung für den Anti-Pirateneinsatz ATALANTA, so bestand der in der angeblichen Notwendigkeit zum Schutz von Schiffen des Welternährungsprogramms. Fünf Jahre später wird hier eine völlig andere Motivation offen eingeräumt. Ganz frisch, am 21. November 2013, hat die Mehrheit des EU-Parlaments eine Entschließung zur Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verabschiedet, in der es heißt:

"Das Europäische Parlament […] fordert den Europäischen Rat auf, erneut die Bedeutung der Energieversorgung Europas und eines diversifizierten und nachhaltigen Zugangs zu Energieressourcen zu bekräftigen; [es] weist ferner darauf hin, dass die Operation ATALANTA bereits eine Rolle in der Energiesicherheit einnimmt, indem Piraten bekämpft werden, die seit 2008 einige Öltanker entführt haben; ist daher der Auffassung, dass diese Aspekte Bestandteil des erforderlichen strategischen Ansatzes sein sollten; betont in diesem Zusammenhang, dass die Energieversorgung ein wesentlicher Faktor für erfolgreiche GSVP-Missionen und -Operationen ist."

Der EU-Rüstungsgipfel am 19./20. Dezember 2013

Liebe Genossinnen und Genossen, aus dem, was ich bisher gesagt habe, sollte deutlich geworden sein, dass mehr Militär aus Sicht der EU-Eliten ganz grundsätzlich für dringend erforderlich gehalten wird.

Doch hier ergeben sich aus deren Sicht zwei große Probleme, die beide mit der Wirtschafts- und Finanzkrise zusammenhängen.

Einmal betrifft dies die Schwerpunktverlagerung der USA nach Ostasien, verbunden mit der mehr oder minder klaren Ankündigung, künftig von der EU mehr militärische Beiträge zu erwarten. Hier verläuft die gegenwärtige Debatte recht einmütig: Es ergebe sich hieraus die Notwendigkeit - manche sagen sogar offen, die Chance - nun die USA als militärische Ordnungsmacht in der europäischen Großregion abzulösen.

Sehr eindrücklich hat das Ashton in ihrem am 15. Oktober veröffentlichten - sehr wichtigen - Bericht zur Vorbereitung des Ratsgipfels im Dezember formuliert: "Das neue Augenmerk der USA für die asiatisch-pazifische Region ist eine logische Konsequenz der geostrategischen Entwicklungen [Anmerkung: des Aufstiegs Chinas]. Sie bedeutet auch, dass Europa mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit und die seiner Nachbarschaft übernehmen muss. […] Die Union muss in der Lage sein, als Sicherheitsgarant - mit Partnern so möglich, autonom wenn nötig - in seiner Nachbarschaft entschieden zu handeln, dies schließt direkte Interventionen ein. Strategische Autonomie muss sich zuerst in der Nachbarschaft der Europäischen Union materialisieren."

Außerdem spricht Ashton noch davon, auch die "Nachbarn der Nachbarn" - explizit benennt sie die Sahel-Zone und das Horn von Afrika - müssten ebenfalls im Auge behalten werden. Kurz gesagt schlägt also Ashton vor, die EU solle die USA als imperiale Ordnungsmacht in Afrika und weit bis in den Osten hinein beerben.

Das zweite wesentliche derzeitige Problem ergibt sich aus der klammen Kassenlage infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise, die auch die Rüstungshaushalte nicht unberührt lässt.

Aber - und das ist mir wichtig, liebe Genossinnen und Genossen - die EU-Rüstungsausgaben sinken bei weitem nicht in dem Maße, wie das Gejammer von Politik, Militär und Rüstungsindustrie nahelegen sollte. Laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI lagen die EU-Rüstungsausgaben 2011 - neuere Daten liegen leider nicht vor - inflationsbereinigt mit 270 Mrd. US-Dollar immer noch deutlich über denen aus dem Jahr 2000 (250 Mrd.).

Richtig ist nur, dass es angesichts der Stimmung in der Bevölkerung schwierig ist, noch höhere Rüstungsausgaben durchzusetzen. Deshalb schlägt Ashton in ihrem Papier für den anstehenden Ratsgipfel vor, künftig mehr Rüstungsmaßnahmen aus dem EU-Haushalt zu finanzieren und so die nationalen Haushalte zu "entlasten".

Vor allem aber drängt sie darauf, künftig mehr europaweite Rüstungsbeschaffungsprogramme auf den Weg zu bringen. So sollen größere Stückzahlen erzielt werden: Dies senkt die Anschaffungspreise und man erhält so mehr Kriegsgerät für das zur Verfügung stehende Geld.

Im Englischen nennt sich das "More Bang for the Buck!" Die treffende deutsche Formulierung für diese Überlegungen wäre vielleicht "Mehr Krieg pro Euro!"

Als eine besondere Form der Motivation für solche EU-Projekte schlägt Ashton deshalb vor, europaweite Rüstungsbeschaffungsprogramme von der Mehrwertsteuer zu befreien!

Liebe Genossinnen und Genossen, gerade dieser letzte Aspekt, die Intensivierung der europäischen Rüstungszusammenarbeit, hört sich erst einmal nicht so dramatisch an. Er ist es aber! Denn die Folge davon wird sein, dass es zu massiven Konzentrationsprozessen in der europäischen Rüstungsindustrie kommen wird. Ziel ist es, die gesamte Branche in den Händen weniger Superkonzerne - sog. Eurochampions - zu konzentrieren.

Wohin die Reise gehen soll, verdeutlichte Stefan Zoller, ehemals Chef der EADS-Rüstungstochter Cassidian: "Das Ziel einer wie auch immer konstruierten Konsolidierung [Zusammenballung] der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie muss eine Dimensionierung im Blick haben, die zumindest tendenziell der des US-amerikanischen Marktes entspricht."

Hierdurch soll die Herausbildung eines europäischen Militärisch-industriellen Komplexes massiv vorangetrieben werden - mit all den Folgen, die dies für die Frage von Krieg und Frieden haben wird. Das ist das wesentliche Programm für die Phase nach 2014, und das ist es auch, gegen das wir Widerstand leisten müssen!