4. Tagung der 17. Bundeskonferenz

1.736 Menschen unterstützen offenen Brief an Michail S. Gorbatschow

Diskussionsbeitrag von Ellen Brombacher

Unter dem Parteitagsantrag »Frieden statt NATO – Offener Brief an Michail S. Gorbatschow« stehen 1.736 Unterschriften von Antragstellern und Unterstützern. Zu den Unterzeichnern gehören 50 Parteitagsdelegierte, 20 Bundestagsabgeordnete, und zwei MdEP. Zu den Unterstützern zählen 148 Unterzeichner aus dem Ausland, konkret aus 20 Ländern, davon allein 55 aus den USA.

Der Antrag wurde am 24. April eingereicht. Anträge reicht man ein, damit sie behandelt werden und letztendlich über sie abgestimmt wird. Auf diese Feststellung komme ich an anderer Stelle zurück.

Da die KPF zu den Initiatoren dieses Parteitagsantrages gehörte, kann hier authentisch über die Prozesse gesprochen werden, die seit etwa Mitte März, als diese Idee geboren wurde, abgelaufen sind und noch ablaufen. Zunächst einmal haben es sich die Initiatoren mit dem Adressaten nicht leicht gemacht. Da Gorbatschows Äußerungen zum Ukraine-Konflikt von uns als durchgängig stimmend bewertet wurden, fanden wir letztlich, dass er in dieser Frage ein sehr geeigneter Ansprechpartner ist. Eine ganz andere Frage ist die Einschätzung seiner historischen Rolle in den achtziger und neunziger Jahren. Dass es hierzu diametral entgegengesetzte Auffassungen unter Linken gibt, wird im Brief nicht verschwiegen. Doch offensichtlich wurde das Anliegen, sich im Brief gerade an Michail S. Gorbatschow zu wenden, sehr breit akzeptiert.

Nachdem der als Offener Brief formulierte Antrag in der Öffentlichkeit war, begann eine Kritik ganz anderer Art. Merkwürdigerweise betraf und betrifft sie primär Formales. Noch nie habe ein Parteitag einen Offenen Brief verabschiedet. Einen solchen könne man auch schicken, ohne vorher einen Beschluss zu fassen. Halina Wawzyniak wörtlich: »Ich verstehe nicht, warum ich einen Offenen Brief auf einem Parteitag beschließen muss.« Man kann diese Frage auch umkehren: »Ich verstehe nicht, warum ich einen Offenen Brief nicht auf einem Parteitag beschließen soll?« Warum ist Wert auf diese Abstimmung zu legen? Weil es sehr wichtig wäre, der Idee einer Weltfriedenskonferenz im Kontext mit den Überlegungen Gorbatschows zur Ukraine-Krise die Autorität des Parteitages einer linken, sozialistischen Partei in Deutschland zu verleihen. Eine andere Partei in diesem Land wird sich diesen Wunsch nicht auf die Fahne schreiben und die Friedensbewegung hierzulande wird den Offenen Brief kaum als Konkurrenzunternehmen zu ihren Aktivitäten verstehen. Genügend Friedensaktivisten aus Bewegungen unterstützen vielmehr diesen Brief und damit auch die in ihm enthaltenen, an Gorbatschow anknüpfenden Bewertungen. Und noch eine Bemerkung: Dass auf Parteitagen noch nie Offene Briefe verabschiedet wurden, also Anträge, die sich explizit und öffentlich an konkrete Adressaten richteten, entspricht nicht der Realität. Dies geschah allein auf dem Gründungsparteitag der LINKEN im Juni 2007 viermal und seitdem regelmäßig per Abstimmung oder per Akklamation. Außerdem: Selbst wenn tatsächlich noch nie ein Offener Brief auf einem Parteitag verabschiedet worden wäre, könnte es jetzt, in dieser den Weltfrieden so bedrohenden Situation zum ersten Mal geschehen. Wir überschätzen dabei weder die Rolle unserer Partei noch die des Offenen Briefes. Ein Bekenntnis hat noch nie eine Aktion oder gar eine Bewegung ersetzt. Aber Aktionen oder Bewegungen ohne Bekenntnisse sind ebenfalls nicht denkbar.

Die Initiatoren wurden auch mit der Sorge konfrontiert, Gorbatschow könne mit dem Anliegen, eine Weltfriedenskonferenz zu organisieren, überfordert werden. Die Bitte an ihn lautet auch nicht, er möge eine solche Konferenz organisieren, sondern eine solche zu initiieren – und das ist etwas anderes. Es geht darum, einen Anstoß zu geben.

Äquidistanz für uns unannehmbar

Wenngleich die Hauptkritik am Offenen Brief formale Fragen betrifft, wird auch Inhaltliches beanstandet. Im Grunde genommen lässt sich der Kern dessen so zusammenfassen: Die Kritik an NATO und USA habe natürlich ihre Berechtigung, sei aber einseitig. In einem den Offenen Brief zur Disposition stellenden Papier aus Baden-Württemberg heißt es wörtlich: »Dennoch gehört zu einer Analyse der Situation, dass NATO und Russland auch mit politischen und militärischen Mitteln um Macht und Einfluss in Osteuropa streiten und dass wir beides gleichermaßen kritisieren.« Ähnliche Überlegungen finden sich auch in einer entsprechenden Erklärung von Christine Buchholz und Klaus-Dieter Heiser.

Genau gegen diese Äquidistanz wendet sich der Offene Brief. Der Vorschlag, eine Weltfriedenskonferenz zu initiieren, ist in ihm untrennbar mit der unbeschränkten Ablehnung dieser Äquidistanz verbunden. Nicht zuletzt, weil Gorbatschow sie auch zurückweist, richtet sich der Brief an ihn. Ansonsten frage ich mich schon, warum bei leitenden Genossinnen und Genossen der Vorschlag, eine Weltfriedenskonferenz in Angriff zu nehmen, Zustimmung findet, nicht aber der Offene Brief. Die angeführten formalen Gründe sind kaum nachzuvollziehen. Ist es die Ablehnung der Äquidistanz, die stets dazu führt, vom Mainstream als russlandfreundlich denunziert zu werden? Ist es die uneingeschränkte Ablehnung der aggressiven Politik der NATO unter Führung der USA? Die Frage müssen diejenigen beantworten, die dazu aufforderten, den Offenen Brief gar nicht erst einzureichen, oder die jetzt daran arbeiten, dass er auf dem Parteitag abgelehnt oder gar nicht erst behandelt wird.

Sicher gibt es genügend Kritikwürdiges Russland betreffend – in der Innenpolitik ohnehin. Aber die Fragestellung, die sich weltpolitisch auftut, lässt sich doch nicht auf dem Basar verhandeln. Sie ist existentieller Natur und kann etwa so formuliert werden: Ist es das legitime Recht Russlands, sich dagegen zur Wehr zu setzen, dass um das Land ein Cordon sanitaire errichtet wird, oder ist es das legitime Recht von USA und NATO, diesen Cordon sanitaire zu errichten? Und in dieser Frage fällt die Antwort sehr klar aus: Russland kann diese Umklammerung nicht einfach hinnehmen. Das ist das Land auch den 27 Millionen im II. Weltkrieg umgekommenen Sowjetmenschen schuldig.

Noch zwei Bemerkungen zu kritischen Tönen: Während der Gedanke einer Weltfriedenskonferenz beinahe einhellig begrüßt wird, gibt es den Vorwurf, der Antrag würde benutzt, um eine strömungspolitische Debatte in der Partei zu entfachen. Wörtlich aus dem bereits benannten Papier aus Baden-Württemberg: »Die Frage von Krieg und Frieden ist zu wichtig, um einen solchen Antrag zur Projektionsfläche für die strömungspolitische Auseinandersetzung in der Partei zu machen.«

Es geht aber nicht um Strömungen, sondern um Inhalte. Es sei wiederholt: Die NATO und Russland sind eben nicht gleichermaßen zu kritisieren. Die Hauptverantwortung für die schlimme und gefährliche Situation in der Ukraine und weit darüber hinaus tragen die USA und die von ihr dominierte NATO. Darüber hinaus ist besonders die Rolle nicht zu vergessen, die einflussreiche faschistische Kräfte in der Ukraine selbst spielen. Unsere Erfahrung ist: Diese Position herrscht auch weitgehend an der Parteibasis. Und die ist keine Strömung!

Unverständnis gibt es bei einigen auch dafür, dass im Offenen Brief eine Auseinandersetzung mit den Atlantikern stattfindet. Unter Atlantikern versteht man hierzulande diejenigen, die sich dafür stark machen, US-amerikanischen Interessen auch diesseits des Atlantik dominierende Geltung zu verschaffen. Warum sollte man sich mit denen nicht auseinandersetzen? In dieser Frage finden sich Bündnispartner bis weit in das bürgerliche Lager hinein. Es geht nicht um personenfixierte Debatten und schon gar nicht um Unvereinbarkeitsklauseln. Inhaltliche Differenzen löst man nicht administrativ. Zur Debatte stehen die Rolle des US-Imperialismus und der NATO und die Mobilisierung gegen deren Politik, auch über den Weg einer Weltfriedenskonferenz.

Warum sollte ein Parteitag der LINKEN sich zu solch wichtigen Problemen nicht verhalten? Hier und da wird eine Abstimmungsniederlage befürchtet, nicht primär aus inhaltlichen Gründen, sondern weil die formale Kritik am Offenen Brief von vielen Delegierten geteilt würde. Wir werden das erleben. Doch wie auch immer sich die Dinge entwickeln: Unmöglich wäre es, so zu tun, als hätte der Antrag »Frieden statt NATO – Offener Brief an Michail S. Gorbatschow« nicht die Unterstützung von mehr als 1.700 Menschen. Die sind keine Manövriermasse.